Der Gehülfe. Robert Walser

Der Gehülfe - Robert  Walser


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dachte: »Da gehen sie, der Mann und die alte Frau. Man sieht sie schon nicht mehr, und hier oben sind sie bereits halb vergessen. Wie rasch vergißt man das Benehmen und Gebärden und Tun der Menschen. Da laufen sie nun, was sie können, die staubige Landstraße entlang, um zur rechten Zeit auf dem Bahnhof zu sein oder an der Schiffshaltestelle. Sie werden beide auf dem langen Weg, zehn Minuten zu gehen ist lang für zwei Geschlagene und Sorgenvolle, kaum ein Wort reden, und doch werden sie reden, eine sehr verständnisvolle Sprache, eine stumme, eine nur zu wohlverständliche. Das Leid hat seine ganz eigene Manier zu reden. Und nun lösen sie die Billetts, oder sie haben sie vielleicht schon, es gibt ja bekanntlich Retourbilletts, und der Zug braust heran, und die Armut und die Ungewißheit steigen zusammen in den Eisenbahnwagen. Die Armut ist eine alte Frau mit verknöcherten, begehrlichen Händen. Sie hat heute versucht, bei Tisch Unterhaltung zu machen, wie eine Dame, aber es ist ihr nicht recht gelungen. Nun fährt sie dahin, an der Seite der Ungewißheit, in welcher sie, wenn sie recht genau schaut, ihren eigenen Sohn erkennen muß. Und der Wagen ist voller vergnüglicher Leute, voller Sonntagsausflügler, die singen, johlen, plaudern und lachen. Ein junger Bursch hält sein Mädchen im Arm, um sie ein ums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh kann die fremde Freude einer unmutigen Seele tun! Aber die arme, alte Frau fühlt sich an Hals und Herz geschnitten. Sie möchte vielleicht jetzt laut um Hülfe schreien. Weiter geht es. O, dieses ewige Gerassel der Räder. Die Frau nimmt ihr rötliches Taschentuch aus der Rocktasche, um die gar zu dummen und auffälligen Tränen zu verbergen, die stürmisch aus ihren alten Augen fließen. Wer so alt ist, wie diese Frau, nein, der sollte nicht mehr weinen müssen. Aber was kümmern sich die Dinge dieser sonderbaren Erde um die Gebote der edlen Schicklichkeit? Die Hämmer fallen ganz blind drauflos, manchmal auf ein arm' Kind, manchmal, merke dir das, Frau, auf eine Greisin. Und jetzt sind Mutter und Sohn an Ort und Stelle und werden aussteigen. Wie wird es jetzt bei ihnen zu Hause aussehen?«

       Er wurde aus seinen Gedanken durch Toblers wohltönende Stimme aufgeweckt. Was er da so allein mache? Er solle kommen und ihm helfen, den Rest Rotwein noch auszutrinken. Ein wenig später sagte der Hausherr zu ihm:

      »Ja, ja. Der Wirsich ist nun endgültig verabschiedet. Ich hoffe, daß ein gewisser Anderer besser zu schätzen weiß, was einer hat, wenn er hier oben leben darf. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wen ich unter diesem ›gewissen Andern‹ verstehe. Sie lachen. Ja, lachen Sie meinetwegen. Das aber sage ich Ihnen im voraus, wenn Sie irgendwelche Gelüste haben, ich meine, so Sonntags, was ja auch keinem jungen gesunden Menschen zu verargen ist, so machen Sie, daß Sie in die Stadt kommen, dort ist gesorgt für so was, mehr wie genug. In meinem Hause, haben Sie verstanden, dulde ich nichts Derartiges. Der Wirsich hat sich gerade dadurch hier ein für allemal unmöglich gemacht. Hier muß Anstand herrschen.«

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