Die FROST-Chroniken 1: Krieg und Kröten. Susanne Pavlovic
Tiefe schlittern ließ. Doch es waren zu viele. Knochenfinger griffen in Augenhöhlen, Schienbeine verhakten sich mit Rippen, Knochenfüße benutzten Wirbel als Steighilfe, Beckenschaufeln dienten als Stütze für Schlüsselbeine.
Blick über die Schulter nach unten. Der brennende Hund raste durch den Garten. Beinahe war Yuriko versucht, das Wagnis einzugehen und zu springen. Er blies eine weitere riesige Flammenlohe über die toten Dinger und trieb sie damit zumindest eine Armlänge zurück. Von der anderen Seite des Daches jedoch drängten neue nach. Beide Wogen trafen sich über dem Dachfirst, türmten sich zu einem grausigen Mahnmal der Sterblichkeit, reglos für den Bruchteil eines Augenblicks, dann sich langsam nach vorne neigend.
Yuriko suchte Halt am Dach. Der Hund war immer noch da und sah schrecklich wütend aus. Der Firstbalken gab ein hässliches Knirschen von sich. Plötzlich hing das Dach durch. Ziegel verabschiedeten sich klappernd und klirrend nach unten. Löcher taten sich auf, dann gab es einen Knall wie von gespaltenem Holz und eine gewaltige Staubwolke.
Das Mahnmal der Toten stürzte ein. Nein, das ganze Dach stürzte ein. Fassungslos sah Yuriko zu, wie es vor ihm einfach versank – Sparren und Schindeln und Strohdämmung und alles. Der große Firstbalken, schwarz verkohlt und in der Mitte gebrochen, streckte seine beiden Enden anklagend in den Abendhimmel, bevor er mit gewaltigem Lärm im Haus verschwand. Plötzlich hatte Yuriko freie Sicht zum Horizont. Er beugte sich vor und spähte in das Loch, das sich vor seinen Füßen auftat.
»Glück geh… hups!«
Ein Ruck unter seinen Füßen, dann sackte das restliche Dach unter ihm weg.
Durch reines Glück wurde er im Fall nicht von den Resten des Firstbalkens aufgespießt. Er landete auf allen Vieren, richtete sich auf und sah sich um. Es war ungewöhnlich hell in dem, was einmal sein Wohnzimmer gewesen war. Unter seinen Füßen befand sich ein Berg von Schutt – der gesamte Dachstuhl, Teile der Treppe sowie der gesamte Zwischenboden, der einmal das Obergeschoss getragen hatte. Im Schutt war Bewegung – was tot war, ließ sich offenbar von einer Kleinigkeit wie einem eingestürzten Dach nicht aufhalten. Grell glühender Zorn packte Yuriko.
»Mein Haus! Mein schönes Haus!«
Mit aller Wucht kickte er einen Totenschädel gegen die Wand. Der Totenschädel zerbrach. Die Wand ebenfalls. Fassungslos starrte Yuriko auf den Riss, der durch den aufgeplatzten Putz zickzackte. Dann umklammerte plötzlich eine Knochenhand seinen Fuß und zog heftig, und Yurikos Geduld war aufgebraucht.
Kurz darauf brannten die Reste seines Hauses wie eine Fackel. Alles, was sich in den Trümmern noch regte, zerfiel zu Asche. Glühend heißer Wind brannte ihm die Kleider vom Leib und ließ seine Haare flattern, er selbst brannte lichterloh, atmete, schluckte und spie Feuer gleichermaßen, bestand aus nichts anderem mehr, bis seine Wut sich aufgebraucht hatte.
Der Schmerz im Bein kehrte zurück. Yuriko schwankte, hielt sich an einem brennenden Dachbalken. Unter seinen Füßen glühten die Trümmer. Aschewolken aufwirbelnd, rutschte er von den Resten des Schuttberges und tastete sich durch die Türöffnung ins Freie. Über Trümmer hinweg stolperte er auf die Straße. Stimmen drangen zu ihm – hektisches Geschrei und das wilde Bimmeln einer Alarmglocke. Er wrang sich Feuer aus den Haaren und sah sich um.
Sein Haus war eine schwarz verkohlte Ruine. Feuer zwinkerte durch die leeren Fensterhöhlen ins Freie. Hitze strich ihm übers Gesicht. Der Birnbaum der Nachbarin stand in Flammen, sie selbst war nirgends zu sehen. Immerhin hatte sie vorhin Wäsche aufgehängt, und die war durch all das Feuer auch schon beinahe trocken. Eilig stieg er über den Zaun und pflückte Hemd und Hose von der Leine. Beides war ein wenig zu kurz und zu eng, aber immerhin besser, als wieder einmal die Sitte im Genick zu haben.
Ein etwas mühsamer Krötensprung brachte ihn auf das Nachbardach. Die steinernen Wände seines Hauses hielten den Funkenflug in Schach, aber die schiere Hitze hatte das Dach des zweiten Nachbarn die Straße runter in Brand gesetzt. Er konzentrierte sich, so gut es ging, und nahm die arkane Energie des Feuers in sich auf, bis es in sich zusammenfiel. Zuletzt löschte er noch den Birnbaum. Ein letzter Funken arkaner Energie bremste seinen Sturz vom Dach. Auf allen Vieren schleppte er sich zum Teich. Auf dem Steg brach er zusammen. Um ihn drehte sich alles. Stechender Kopfschmerz quälte ihn, und seine arkanen Bahnen im ganzen Körper fühlten sich an, als hätte er sie mit der Stahlbürste durchgekehrt.
Das Feuer war nicht bis hier vorgedrungen. Der Schatten vom Haus fehlte, und scharfer Brandgeruch lag über allem. Abgesehen davon war hier die Welt noch völlig in Ordnung. Libellen schwirrten durch die Abendsonne, eine Kröte quakte, im Schilf verborgen. Zarte Wellen liefen über die Wasseroberfläche. Yuriko blinzelte. Vor ihm hob Arkadis den Kopf aus dem Wasser und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um.
»Schlaues Mädchen, gut gemacht«, murmelte Yuriko. Sie sah ihn abwartend an, und er winkte schlapp. »Kannst rauskommen.«
Plätschernd stemmte Arkadis sich auf den Steg. Sie legte die Hand über den Mund und zeigte auf das Haus.
»Ich weiß«, sagte Yuriko müde. »Ich könnte heulen.«
Arkadis kauerte sich neben ihn und berührte ihn tröstend an der Schulter.
»Danke für das Mitgefühl«, sagte Yuriko. »Einigermaßen gern geschehen. Könntest du mir doch bloß sagen, was sie von dir wollten.«
Arkadis hielt ihm die Hand vors Gesicht und spreizte nacheinander drei Finger ab. Dazu machte sie ein fragendes Gesicht.
»Zwei«, sagte Yuriko. »Eine Trulla mit einem Schwert und eine mit sehr schlechten Zähnen. Zauberin. Sie hat mir lebende Leichen aufs Dach gehetzt.«
Drei Finger.
»Nur wenn du den Hund mitzählst.« Großer Krötengeist, der Hund. Yuriko richtete sich auf und sah sich um. Aber nein. Die Schwertfrau hatte ihn beschworen, damit er ihr im Kampf beistand. Die Beschwörung war mit ihrem Tod abgerissen, das Vieh also mutmaßlich zurück in dem Ewigen Raum der Dämonen, aus dem er gekrochen war.
Vorne rief jemand seinen Namen. Yuriko ließ sich auf den Rücken fallen.
»Wenn sie was wollen, sollen sie kommen.«
Arkadis erhob sich und lief davon. Der direkte Weg zur Straße war durch die Ruine abgeschnitten, von der gewaltige Hitze ausging. Vereinzelt schlugen noch die Flammen aus den Fensterhöhlen. So dauerte es geraume Zeit, bis sie zurückkehrte, gefolgt von einer sichtlich schockierten Galina.
»Meister Yuri! Was hast du gemacht!«
»Ich habe unseren Gast gerettet. Und einen ganzen Straßenzug davor bewahrt, bis auf die Grundmauern abzubrennen.«
»Nachdem du ihn zuerst angezündet hast!«
»Wir wollen mal nicht kleinlich sein, oder?«
Galina hockte sich neben ihn und betrachtete besorgt sein Bein, die blutdurchtränkte Hose und den dunklen Blutfleck, der sich langsam auf den Brettern unter ihm ausbreitete.
»Du brauchst einen Arzt.«
Sie beugte sich über ihn und befühlte seine Stirn. Yuriko simulierte Schwäche, um den Ausblick auf den zarten Ansatz ihrer Brüste länger genießen zu können.
»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte Galina. Yuriko berichtete und verfolgte, wie sie immer ungläubiger dreinsah, je weiter er mit seiner Erzählung kam.
»Lebende Tote«, sagte sie schließlich und sah zweifelnd zu Arkadis. Die nickte und hob gleichzeitig die Hände zur Seite.
»Sie hat’s nicht gesehen«, übersetzte Yuriko. »Sie war im Teich. Aber wenn du Zeugen brauchst, damit du deinem Meister Glauben schenkst, dann frag doch die Nachbarn. Oh, und wenn du schon dabei bist, hol Meister Padda von der Nachbarin mit dem Birnbaum, ja? Und schick mir einen Arzt.«
»Sonst noch was?«
»Ein neues Haus, ein Sack voll Gold und ganz viel Liebe.«
Galina verdrehte die Augen, stand aber gehorsam auf und trabte davon. Yuriko kratzte seine letzte Kraft zusammen, wälzte sich zur Seite und ließ sich in den Teich fallen.