K.I.. Christian J. Meier

K.I. - Christian J. Meier


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er jetzt der Hafenarbeiter Wu Dong aus der Nachbarschaft sein, von dem Meng wusste, dass er seit gestern etwas später aus dem Haus ging, weil die Klangschalenmeditation verlegt worden war.

      Als Experte kannte Meng die Tricks, um den Algorithmen der Personenerkennung ein X für ein U vorzumachen. Wenn die KI sagte: Das ist Wu Dong aus der Bashong Straße in Shanghai, musste das lange nicht stimmen. Auch ein Muster, das wie Rauschen aussah, konnte diese Entscheidung herbeiführen. Wenn man wusste, wie man es berechnete. Meng wusste es. Seine Kontaktlinsen führten die KI mit einem solchen Flackern in die Irre.

      So gerüstet, trat Meng vor die Tür und schlenderte die Straße hinunter. Auf Höhe des Kaufhauses »Goldener Drache« widerstand er dem Impuls, den Kopf zu senken, als er zwei entgegenkommende Polizisten passierte. Sollten sie ihn überhaupt wahrnehmen, würden auch ihre Erkennungssysteme den in höchstem Maß vertrauenswürdigen Hafenarbeiter auf dem Weg zum feierabendlichen Meditieren anzeigen. Am Ende der Straße bog Meng nach rechts ab. Richtung Hafen, wo das Schiff wartete.

      Bald würde er im Westen sein.

      Die drei leeren Tassen auf dem Wohnzimmertisch drängten sich vor sein inneres Auge. Er sah seine Frau, wie sie die ihre austrank und wie die Kinder ihrem Beispiel folgten. Das Gift strömte in ihre Körper, drang in ihre Zellen und erstickte diese binnen Minuten.

      2

      Die Lichter von Frankfurts Skyline glommen hinter den Fensterscheiben des Krankenzimmers. Alexander Wenger lag bis auf Kopf, Schultern und den linken Arm unter einer weißen Decke. Eine Kanüle steckte in seiner Armbeuge. Der Schlauch daran führte in eine Apparatur mit der Aufschrift Gaia Health – Patient Terminal, von der dünnere Röhren zu einer Halterung voller Fläschchen liefen. Auf dem Monitor über der Maschine erschien eine grün blinkende Schrift, begleitet von einem sanften Piepsen:

      Rezeptur 44A

      Alexander Wenger

      Mischung der Komponenten

      Das Patient Terminal aktivierte sich, erkennbar am anschwellenden Sirren seiner Mikropumpen. Einige der Schläuche zuckten. Ein weiteres Piepsen bestätigte die Fertigstellung von Rezeptur 44A. Nun zitterte die Röhre, die zu Wengers Arm führte. Der Patient selbst schien davon nichts zu bemerken. Seine Augen blieben geschlossen, die Miene unverändert gleichmütig. Der Schmerzrepressor in 44A ermöglichte ihm einen friedlichen Schlaf, der andauerte, bis die Wolkenkratzer draußen im Morgenlicht aufglühten.

      Jette Blomberg las die Nachricht, die halbtransparent in ihrem Blickfeld erschien, während ihre Schuhsohlen weiter auf dem Boden des Korridors klackerten. »Sofort zu mir!«, las die Ärztin der onkologischen Station des Klinikums Frankfurt. Seufzend machte sie kehrt, stapfte zum Aufzug und fuhr in den vierten Stock, in dem das Büro des Klinikdirektors Martin Sommer lag.

      Dort angekommen, klopfte sie und trat ein.

      Den massigen, stoppeligen Kopf gesenkt, mit dem feisten Zeigefinger auf der vor ihm ausgerollten Foil herumhackend, wies Sommer mit der freien Hand seine Besucherin an, sich zu setzen. Jette nahm auf dem gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.

      Minutenlang tippte und wischte ihr Boss weiter. Sie blickte sich im Büro um. Neben Sommers gerahmten Meriten hing ein Selfie des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Klinikverbunds Süddeutschland, Jörn Spiewalk. Arm in Arm, die Köpfe fast aneinander gelehnt, lächelten er und ein schmalbrüstiger, brillentragender Glatzkopf um die Vierzig dem Betrachter entgegen. Der Haarlose war Brent Scott, Gründer und Chef von Gaia, des konkurrenzlosen Cloudkonzerns des Westens. Dieser gutmütige Onkel hatte von seinem Bostoner Softwarebüro aus zuerst Amazon hinweggefegt, mit einer prognostischen KI, die den Kunden lieferte, was sie sich im Moment wünschten und die zugleich die Logistik verschlankte, also ein unschlagbar effizientes Geschäftsmodell schuf. Seine KI perfektionierte die vorausschauende Wartung und vernetzte Industriemaschinen optimal miteinander. Ein weiteres Feld, auf dem zuvor Amazon geglänzt hatte. Scotts nächster Coup war der nahtlose Zugang zur Cloud für alle gewesen. Das Technikgenie verschmolz die Kommunikationstechnik mit dem Körper und damit die digitale Welt mit der Wahrnehmung der Menschen. Dazu dienten etwa Kontaktlinsen mit eingebauten Displays, Kameras und einem automatischen Authentifizierungssystem, das die Netzhaut zum Ausweis der Person machte – niemand brauchte mehr zig Passwörter. Mit Gaias Technik und seinen Services schwamm man in einer neuen, weiten, bunten Welt, die zugleich saß wie ein Maßanzug. Alle wollten mitschwimmen. Millionen ließen sich die Körpertechnik, Linsen, Mittelohren, Gedankenschnittstellen, Rechenhubs sogar implantieren. Die Datenströme verlagerten ihre Flussbetten nach Boston, zu Gaias Firmen- zentrale und dem medienscheuen Boss Brent Scott. Wie ein galaktisches Gravitationszentrum sog Gaia Daten und Rechenpower an sich, bis nach Amazon die anderen Größen in der Bedeutungslosigkeit versanken: Google, Facebook, Apple, Microsoft.

      Jette wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster hinter Sommer.

      Draußen blitzte ein vorbeifliegendes Flugtaxi im Sonnenlicht, wie ein monströser Prachtkäfer. Jette wünschte sich, mit dem Luftfahrzeug wild herumzustreifen. Ein Hobby, das sie aufgegeben hatte.

      Leider.

      Die Option Flucht erschien ihr mit jedem neuen Tag in der Klinik attraktiver.

      Sommers Tippen auf der Foil hörte auf, Jette wandte sich ihrem Chef zu. Der studierte die Ärztin mit schräg gelegtem Kopf und leicht zugekniffenen Augen, als habe er einen besonders komplizierten Fall vor sich.

      »Sie sind auf der Kippe, Frau Doktor Blomberg«, sagte er. Jette hasste die drohende Art, mit der Sommer seine Untergebenen auf Linie hielt.

      Sie setzte eine ahnungslose Miene auf.

      »Es muss aufhören«, fuhr Sommer fort. »Sofort. Sonst können Sie nicht in unserem Team bleiben.«

      Jette zuckte die Schultern. »Was muss aufhören, Herr Direktor?«, fragte sie.

      Sommer schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Totenkopf aus Plastik darauf wackelte. »Stellen Sie sich gefälligst nicht auch noch dumm! Ich meine natürlich ihren Aktivismus, wie jetzt dieses Interview im taz-Stream, das nun von vielen Streamern aufgegriffen wird! Was wollen Sie? Zum Team gehören oder ihm in den Rücken fallen?«

      »Was ich will? Den Patienten helfen, Professor Sommer.«

      Der Furor des Direktors stockte, als habe er mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Entgegnung. »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen den Patienten helfen, indem Sie öffentlich Gaia verdächtigen, unsauber zu arbeiten?«

      »Das habe ich nicht!«

      »Ach nein?«

      Sommer wischte auf der Foil herum, bis sie die Umrisse einer Tatze auf rotem Grund mit dem Schriftzug »taz« daneben zeigte. Darunter die Überschrift: »Frankfurter Ärztin beklagt Kontrollverlust« mit einem Bild von Jette und einem Text. »Sie haben also Folgendes nicht geäußert?«, fragte Sommer. »Ich zitiere: Die Medizin ist heute stark personalisiert. Für jeden Patienten stellen Gaias Algorithmen individuelle Wirkstoffmixturen zusammen. Wir können diese zwar analysieren. Aber wir können nicht nachvollziehen, warum sie wirken und wie, weil nur Gaia über ein vollständiges Tumorzellen-Modell verfügt. Wir mögen alle Patientendaten haben, aber das Wissen hat dieser allmächtige Konzern. Dieses Unternehmen ist eine unberechenbare Black Box. Niemand kontrolliert es. Wie können wir wissen, ob und wie sorgfältig es arbeitet? Die meisten Erkenntnisse hat Gaia mittels künstlicher Intelligenz automatisch generiert. Womöglich kontrolliert nicht einmal Gaia selbst, was die Maschinen für unsere Patienten zusammenmixen. Zitat Ende.«

      Sommer sah Jette herausfordernd ins Gesicht.

      »Das sind meine Worte«, sagte sie.

      Empörung verhärtete Sommers Mimik, wie die eines Vaters gegenüber der trotzigen Tochter.

      »Wissen Sie eigentlich, was Sie da unterstellen, Frau Doktor Blomberg?«

      »Ich weise lediglich darauf hin«, entgegnete Jette, »dass wir Klinikärzte die Kontrolle verloren haben. An eine Maschinerie, deren Entscheidungen wir nicht verstehen. Ich behaupte nicht, dass es dem System an Sorgfalt


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