K.I.. Christian J. Meier

K.I. - Christian J. Meier


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lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Sein fetter Körper verursachte dabei ein beträchtliches Knirschen. Er schnaufte, dann setzte er eine milde Miene auf.

      »Frau Doktor Blomberg«, begann er in dem warmen Bariton, mit dem er im Bedarfsfall den nachsichtigen Patriarchen spielte. Jette kämpfte gegen eine aufwallende Übelkeit. »Mit Gaia Health haben wir unendlich viel mehr Behandlungserfolg«, dozierte Sommer. »Zu deutlich geringeren Kosten. Gaia least uns die modernsten Geräte, günstiger als es jeder der früheren Anbieter konnte. Es bekommt dafür die Daten. Das stimmt. Doch es hat sich gezeigt, dass das Teilen von medizinischen Daten eine ethische Pflicht ist. Denn es erhöht die Evidenz in unserer Profession, Frau Doktor Blomberg. Brent Scott hat seine künstliche Intelligenz mit Daten von Millionen Patienten aus fast allen Ländern des Westens trainiert. Nur so konnte sie auch noch die verstecktesten und verwickeltsten Krankheitsmechanismen erkennen. Sie weiß bei jedem Patienten, welche Schrauben sie anziehen muss. Doktor Blomberg, Gaia Health ist das, wovon wir noch vor zwanzig Jahren nicht zu träumen wagten! Unsere Krebsstation ist viel kleiner, weil Gaia den Krebs Jahrzehnte vorhersieht und ihn verhindert. Wenn jemand dennoch erkrankt, bekommt er die besten Medikamente. Der von Gaia geleaste OP-Roboter Vivaldi kann Tumoren operieren, die noch vor drei Jahren einem Todesurteil gleichkamen. Die Leute leben heute länger. Sehen Sie mich an. Ich bin 70 und will noch zehn Jahre arbeiten. Diese neue Medizin ist ein integraler Bestandteil des Gutlebens! Woher nehmen Sie eigentlich die Chuzpe, dieses, dieses... ja: heilbringende System derart aggressiv aufs Korn zu nehmen?«

      Jette lehnte sich ebenfalls zurück.

      »Es stimmt, dass in Summe mehr Menschen überleben und das ist gut«, sagte sie. »Aber meine Erfahrung und meine Intuition sagen mir, dass Menschen sterben, die leben sollten. Das ist nicht alles: Manchmal stirbt ein Patient, von dem ich auch unter Gaias Behandlung erwartet hätte, dass er überlebt.«

      Sommer lachte in sich hinein. »Das ist ein ungeheuerlicher Verdacht, Frau Doktor Blomberg. Als Beleg haben Sie Ihr Gefühl. Somit nichts, was man über die Streams verbreiten dürfte. Und mehr werden Sie da auch nicht herausbekommen.«

      Jette zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«

      Sommer lachte zynisch auf und schüttelte den Kopf.

      »Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Doktor. Es ist nun mal so, dass die Maschine den Krebs besiegt hat, nicht wir. Sie hat ein Zellmodell, das ist richtig. Aber keines, das ein Mensch kapieren könnte. Gut, man kann sich die Parameter der neuronalen Software anschauen, die sie selbst beim Lernprozess justiert hat. Aber genauso gut könnten Sie versuchen, die Relativitätstheorie aus den Nervenverbindungen in Einsteins Gehirn herauszulesen. Es ist sinnlos, Frau Blomberg. Alles, was Sie erreichen, ist das Vertrauen ins System zu unterminieren. Ich sage Ihnen zum letzten Mal: Sie beenden das. Oder Sie fliegen!«

      Jette warf die Tür zu Sommers Büro zu und trat auf den Korridor. »Jette«, hörte sie eine sanfte weibliche Stimme. Es war Rhea, der Avatar Gaias, der den Nutzern stets zur Seite stand.

      »Der letzte Therapieversuch bei Patient Alexander Wenger ist gescheitert. Die Prognose ist nicht gut. Bitte komm sofort ins Zimmer 208.« Jette stoppte ihren straffen Schritt. Ihr Atem mühte sich gegen den anschwellenden Druck des Brustkorbs.

      Alexander? Nein, nicht Alexander!

      Sie hätte schwören können, dass er es schaffen würde.

      Nicht aus Wunschdenken. Nicht, weil er der erste Patient war, in den sie sich verliebt hatte.

      Sie hatte Kranke mit weniger Kraft und Willen das Glioblastom, diesen verteufelten Hirntumor, überleben sehen. All ihre Erfahrung, ihre Intuition protestierten gegen die Nachricht. Genauer: Es rebellierte jener Teil von Jettes Instinkt, den sie in den zwei Jahrzehnten entwickelt hatte, bevor Gaia Health in ihr Berufsleben gedrungen war wie ein nicht eingeladener Gast, der einem ungefragt die Möbel umstellte und die Kochrezepte wählte. Sie drehte um und lief Richtung Zimmer 208.

      Alexander Wenger durchdrang die kahle Decke des Krankenzimmers mit jenem Blick, den viele Patienten annahmen, sobald sie den Tod in unmittelbarer Nähe wussten.

      »Ich kann es nicht glauben, Doktor Blomberg«, flüsterte er.

      »Nenn mich Jette.« Sie legte ihre Hand auf seine.

      Er lächelte wissend und sah sie an, als habe er diese Berührung schon vor geraumer Zeit erwartet.

      »Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben, Jette. Wir hätten zusammen in die Villa ziehen können, die ich mir kaufen wollte. Sie hätte für eine Menge Kinder gereicht. Wirklich schade. Du hast eindeutig den falschen Job.« Ein röchelndes Lachen, das in Husten überging. Die Krankheit entstellte ihn nicht. Sogar in seinem Todeskampf gefiel er Jette. »Die letzte Ladung hat mir nicht gutgetan«, röchelte er und presste die Lippen zusammen. Er heftete den Blick an Jettes Gesicht. Warme Nässe verdrängte die Angst und die Leere aus seinen Augen. »Tut mir leid, dass du mich so sehen musst«, keuchte er.

      Jette beugte sich über ihn, raffte die Bettdecke von seinem Oberkörper und legte ihm den Arm über die Brust. Ihre Lippen näherten sich Alexanders. Sie spürte die trockene, rissige Haut. Er umfasste sie und drückte sie sanft an sich. Ihre Münder umspielten sich. Dann löste Alexander den Kuss. Er hob den Oberkörper und stieß einen Seufzer aus, vor dem Jette erschrak. Er drückte sie fester an sich. Jette fühlte sich aufgehoben und von Stärke umhüllt. Alexanders Körper verströmte seine Reserven, als würde er im letzten Moment alles geben, womit er zuvor sparsam gehaushaltet hatte. Dann brach die Spannung, seine Umarmung löste sich. Alexanders Körper sackte zurück auf die Matratze.

      Rhea informierte Jette darüber, dass der Patient Alexander Wenger seine Lebensfunktionen beendet hatte.

      Jette richtete sich auf und sah die Leiche an.

       Gaia hatte Alexander auf dem Gewissen.

      Jette stand auf und trat vor das Patient Terminal, fixierte das grüne Symbol, ein stilisierter Globus, der wie ein G aussah, Gaias Logo, als stünden sie sich zum Duell gegenüber. Sie löste den Schlauch, der zu Alexanders Arm führte, klickte den Behälter mit Rezeptur 44A heraus und steckte ihn in die Tasche an ihrem Kittel.

      Die Entscheidung war gefallen: Kampf statt Flucht.

      Sie würde ihr Gefühl in Fakten verwandeln.

      Und damit Gaia entlarven.

      3

      Patrick Reinerts beugte sich über das Bassin eines der Springbrunnen auf dem Stuttgarter Schlossplatz. In den sanften Wellen spiegelte sich ein blasses Gesicht. Die trocken-heiße Julibrise spielte mit dem halblangen dunkelblonden Haar. Einzelne Strähnen baumelten vor den eisblauen Augen. Ein auf struppig getrimmter, spitzer Kinnbart gab dem länglichen Gesicht das noble und gleichzeitig kraftvolle Aussehen eines Ritters.

      Eines toten Ritters, erschrak Patrick.

      Woher kam diese Blässe? Sein Gesicht strotzte sonst vor Bräune. Es lag sicher an dem Termin mit Rektor Bohn, dem er seit Wochen entgegenfieberte, beruhigte sich Patrick. Er pokerte um die Zukunft seiner Forschung.

      »Macht euch frei, Mitmenschen!«, tönte ein durchdringender Bass in der Manier eines Predigers über den Schlossplatz.

      Patrick richtete sich auf und sah durch den Wasserschleier des Springbrunnens hinüber zum Musikpavillon. Unter einem der maurischen Bögen ragte ein bärtiger Hüne auf wie ein Baum und redete mit ausgebreiteten Armen zu Menschen, die gleichgültig an ihm vorbeischlenderten.

      »Euer Gott nimmt euch alles ab: jede Entscheidung, jeden Gedanken, jede Idee!«, dröhnte er. »Lasst eure smarten Augenlinsen herausoperieren, eure Kehlenelektroden, entfernt eure Ohrknöpfe. Das, was sie ›Gutleben‹ nennen, ist nichts weiter als ein Gefängnis für euren Körper und für euren Geist! Kehrt zu euch zurück, zu eurem Selbst. Zur Freiheit!«

      Freiheit.

      Davon hatte sein Vater auch immer schwadroniert, vor über zwanzig Jahren, kurz bevor dessen Bankerwelt in Trümmer fiel


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