Ich nannte ihn Krawatte. Milena Michiko Flasar
gehabt haben mögen, war der Einsicht gewichen, dass es nicht in ihrer Macht lag, mich zurückzugewinnen, und wie sonderbar die Situation für sie auch sein mochte, selbst im Sonderbaren hatte sich bald eine gewisse Ordnung eingestellt. Man wohnt nebeneinander unter einem Dach, und solange nichts davon nach draußen dringt, hält man es für schlichtweg normal, so unter einem Dach zu wohnen.
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Heute begreife ich, dass es unmöglich ist, jemandem nicht zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden. Ihn zu kappen, dazu bedarf es mehr als nur eines Todes, und es nützt nichts, dagegen zu sein.
Als er auftauchte, hatte ich keine Ahnung.
Ich sage: Er tauchte auf. Denn so war es. An einem Morgen im Mai war er plötzlich aufgetaucht. Ich saß auf meiner Bank, den Kragen hochgeschlagen. Eine Taube flog auf. Mir wurde schwindlig von ihrem Flügelschlag. Als ich die Augen zu- und wieder aufmachte, war er da.
Ein Salaryman*. Mitte fünfzig. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine rotgrau gestreifte Krawatte. In seiner Rechten schlenkerte er eine Aktentasche, braunes Leder. Er ging, sie hin- und herschlenkernd, mit vornübergeneigten Schultern und abgewandtem Gesicht. Irgendwie müde. Ohne mich anzuschauen, setzte er sich auf die gegenüberliegende Bank. Schlug ein Bein über das andere. Verharrte so. Bewegungslos. Das Gesicht in seiner Abgewandtheit gespannt. Er wartete auf etwas. Etwas würde geschehen. Gleich, gleich. Erst nach und nach lösten sich seine Muskeln und er lehnte sich seufzend zurück. Solch ein Seufzen, in ihm war das Etwas, welches nicht geschehen war.
Ein flüchtiger Blick auf die Uhr, dann zündete er sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg in Kringeln empor. Das war der Beginn unserer Bekanntschaft. Ein scharfer Geruch in meiner Nase. Der Wind blies den Rauch in meine Richtung. Noch ehe wir Namen ausgetauscht hatten, war es dieser Wind, der uns miteinander bekannt machte.
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War es sein Seufzen gewesen? Oder die Art, wie er die Asche wegschnippte? Selbstvergessen, von sich selbst vergessen. Ich scheute nicht davor zurück, ihn so, wie er mir gegenübersaß, zu betrachten.
Ich betrachtete ihn wie ein vertrautes Objekt, eine Zahnbürste, einen Waschlappen, ein Stück Seife, und auf einmal sieht man es wie zum ersten Mal, seinem Zweck vollständig entfremdet. Kann sein, dass es diese seine Vertrautheit war, die ein besonderes Interesse in mir hervorrief. Seine gebügelte Gestalt war die tausender anderer, die tagein und tagaus die Straßen füllen. Sie strömen aus dem Bauch der Stadt und verschwinden in hohen Gebäuden, in deren Fenstern der Himmel in einzelne Teile zerbricht. Sie sind der Durchschnitt, typisch in ihrer Unauffälligkeit, rasierte Vorstadtgesichter, zum Verwechseln ähnlich. Er zum Beispiel hätte mein Vater sein können. Ein beliebiger Vater. Und doch war er hier. So wie ich.
Wieder seufzte er. Diesmal leiser. Wer so seufzt, dachte ich, ist nicht nur irgendwie müde. Fühlte es mehr, als dass ich es dachte. Ich fühlte, das ist einer, der des Lebens müde ist. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu. Er lockerte sie, sah erneut auf die Uhr. Gleich war es Mittag. Er packte sein Bentō* aus. Reis mit Lachs und eingelegtem Gemüse.
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Er aß langsam, kaute jeden Bissen zehn Mal. Er hatte Zeit. Den Eistee schlürfte er in kleinen Schlucken. Auch dabei sah ich ihm zu. Schon fast ohne Verwunderung über mich selbst. Denn damals ertrug ich es kaum, einem andern beim Essen und Trinken zuzusehen. Er jedoch tat es mit solcher Behutsamkeit, dass ich darüber meine Übelkeit vergaß. Oder wie soll ich es beschreiben: Er tat es in vollstem Bewusstsein dessen, was er tat, und dies machte aus einem alltäglichen Akt wie diesem einen bedeutsamen. Jedes einzelne Reiskorn nahm er in sich auf, brachte sich ihm gleichermaßen dar, mit einem dankbaren Lächeln.
Bei jedem anderen wäre ich auf und davon gelaufen, hätte das Mahlen des Kiefers für eine Bedrohung, das Malmen der Zähne für eine Gefahr gehalten. Ich fand es ungeheuerlich, wie eins ums andere in den Mund hinein und hinunter in die Gedärme rutschte. Ich selbst schlang, ohne nachzudenken. Der innere Zwang, mich zu erhalten, mich trotz allem zu erhalten, war mir ein Rätsel, dem auf den Grund zu gehen ich sorgsam unterließ. Besser nicht nachdenken darüber.
Sobald er fertiggegessen hatte, war er wieder ein gewöhnlicher Salaryman. Er schlug die Zeitung auf, las den Sportteil zuerst. Die Giants*, fett gedruckt, hatten einen triumphalen Sieg davongetragen. Zustimmend nickte er, während er mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr. Ein Ring. Er war also verheiratet. Ein verheirateter Giants-Fan. Wieder zündete er sich eine Zigarette an. Danach noch eine und noch eine, der Qualm hüllte ihn ein.
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Der Park war durch seine Anwesenheit kleiner geworden. Er bestand nun aus nur mehr zwei Bänken, seiner und meiner, den paar Schritten, die uns voneinander trennten. Wann würde er aufstehen und gehen? Die Sonne war von Süden nach Westen gewandert. Es kühlte ab. Er verschränkte die Arme. Die Zeitung lag aufgeblättert auf seinen Knien. Eine Schar Schulkinder kam lärmend über den Rasen gestolpert. Zwei ältere Frauen unterhielten sich über ihre Krankheiten. So ist das Leben, sagte die eine, man wird geboren, um zu sterben. Er war eingeschlafen. Schwerer Kopf. Die Zeitung flatterte zu Boden. Jederzeit kann es zu Ende gehen, hörte ich, manchmal habe ich gar kein Gefühl mehr da drinnen.
Im Schlaf löste sich sein Gesicht auf. Silbrige Strähnen in der Stirn, unter den Lidern jagte ein Traum den anderen. Zuckende Oberschenkel. Ich empfand etwas, dünn wie der Faden Speichel, der aus seinem offenen Mund heraushing. Noch fehlte mir aber das Wort dafür. Erst jetzt fällt es mir ein. Mitgefühl. Oder der jähe Impuls ihn zuzudecken.
Als er endlich erwachte, sah er müder aus als zuvor.
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Sechs Uhr.
Er zog die Krawatte enger. Der Park füllte sich mit den Geräuschen des herannahenden Abends. Eine Mutter rief: Komm, wir gehen nach Hause. Der zärtliche Klang, als sie nach Hause rief. Ein Ziehen im Nabel. Er strich sich die Haare aus der Stirn, gähnte, stand auf. In der Rechten die Aktentasche. Wartete eine unschlüssige Sekunde lang. Worauf? Ging los und verschwand, grauer Rücken, hinter einem der Bäume. Ich sah ihm nach, bis er gänzlich verschwunden war, und es muss wohl in diesem Moment gewesen sein, in dem kurzen Moment, da ich ihn aus den Augen verlor, dass ich so seufzte wie er.
Und wenn schon. Ich schüttelte mich. Ich schüttelte ihn ab. Was hatte ich mit einem zu tun, den ich ohnehin nie mehr wiedersehen würde? Die alte Übelkeit erfasste mich. Unerträglich, wie ich mich schauend in das Schicksal eines Fremden gemengt hatte. Als ob es mich beträfe. Voll alten Ekels schüttelte ich ihn aus meinen Händen und Füßen. Wie schon gesagt: Ich hatte keine Ahnung. An jenem Abend, als ich mich zu Bett legte, das Laken schlug Wellen, an jenem Abend hatte ich nicht die geringste Ahnung, warum ich, kurz vor dem Ertrinken, sein Gesicht an der Wand zerbröseln sah. Ich trieb im Gewässer meiner Ahnungslosigkeit. Durch den Spalt in den Vorhängen schien der Mond darauf.
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Ich hatte ihn nicht vergessen, als ich mich Tags darauf auf den Weg in den Park machte. In meinen Träumen war er mir abwechselnd als ein Reiskorn, eine Zigarette, ein Baseballschläger, eine Krawatte erschienen. Das letzte Bild war ein verschwommenes: ein Mann in einem Raum ohne Wände. Mit jedem Schritt wurde es blasser, ich löschte es aus.
Bei meiner Bank angelangt, war ich erleichtert, die seine leer vorzufinden. Dort, wo er gesessen hatte, war keine Spur von ihm zurückgeblieben. Ein Putztrupp war gerade dabei, die Mülleimer auszuräumen. Die Zigarettenstummel waren bereits zusammengefegt und in einen Plastikbeutel gekippt worden. Kein Ascheflöckchen erinnerte an ihn. Der Park war so groß, wie er eben war. An einem der Grashalme, die hier und dort aus dem Kies herauswuchsen, funkelte ein Tautropfen. Ich bückte mich nach ihm, er war warm von der Morgensonne. Als ich wieder hochkam, war er, wie am Tag davor, plötzlich aufgetaucht.
Ich erkannte ihn an seinem Gang. Ein wenig schief. Wie wenn er jemandem ausweichen wollte. So gehen