Ich nannte ihn Krawatte. Milena Michiko Flasar

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar


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entglitt mir das Was und stattdessen war es das Wie, das mich gefangen nahm. Der verbrauchte Tonfall, mit dem er den Wörtern einen herben Geschmack beigegeben hatte. Ob jung oder unglaublich, beides hatte so, wie er es gesagt hatte, eine würzig schwere Note bekommen und beides war so, wie ich es gehört hatte, ein und dasselbe Wort gewesen. So spricht man, dachte ich, wenn man sehr lange geschwiegen hat. Alle Wörter sind einem dann gleich und man kann kaum verstehen, was das eine vom anderen trennt. Ob Klebstoff oder Leben, es machte keinen allzu großen Unterschied.

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      Sein Schlaf kam jäh. Auf Seite zwei des Sportteils hatte er ihn erwischt. Die Lehne im Rücken war er mit gesenktem Kopf eingedöst. Seine Handflächen offen über dem Mannschaftsbild der Giants. Ein Netz aus Linien. Die des Herzens durchkreuzt. Schmierige Druckerschwärze am rechten Zeigefinger. Wieder glich er einem Kind. Harmlos. In seiner Harmlosigkeit unbeschützt. Und wieder spürte ich den Wunsch, ihn zuzudecken, diesen natürlichen Wunsch, ihn, wie auch immer, vor einem Unheil zu bewahren.

      Als er erwachte, war es schon halb sechs vorbei. Gähnend streckte er sich und wischte sich den Sand aus den Augen. Ein paar Minuten noch, sagte er zwinkernd, dann geht der Tag zu Ende. Keine Überstunden heute. Er faltete die Zeitung zusammen. Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Mein erster Satz, wenn ich, durch die Tür herein, im Eingang stehe. Es riecht nach Knoblauch und Ingwer. Frisch gedünstetem Gemüse. Ich stehe im Eingang, sauge diesen Geruch in mich ein und sage: Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Kyōko schimpft mich einen Dummkopf dafür. Aus ihrem Mund klingt es wie das zärtlichste Du. Ganz ohne Beleidigung. Verstehst du? Sie könnte mich weitaus Schlimmeres nennen. Einen Lügner, einen Betrüger. Und trotzdem wäre darin, ich hoffe es inständig, dieselbe Zärtlichkeit, mit der sie mich einen Dummkopf schimpft. Obwohl. Ich will es lieber nicht wissen. Solange noch Hoffnung ist, will ich nicht wissen, wie es wäre, wenn ich ihr die Wahrheit sagte. Und wozu überhaupt? Sie hat Besseres, sehr viel Besseres als die Wahrheit verdient.

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      Fünf vor sechs. Er zupfte sich die Krawatte zurecht. Nicht zu hastig. Eher, als ob er sich zurückhalten müsste. Ein gezäumtes Pferd, das sich selbst am Riemen reißt. Immer wieder schüttelte er seinen Arm in die Höhe, schob den Hemdsärmel beiseite, schaute auf die Uhr. Ich gehe jetzt. Drei vor sechs. Nein, ein bisschen noch. Zwei vor sechs. Nun aber wirklich. Eins vor sechs. Also dann. Bis morgen? Ich nickte. Er sagte leise, fast nicht hörbar: Ich danke dir. Ein letzter Blick auf das Handgelenk. Punkt sechs. Mit einem Ruck hatte er sich erhoben. Ich tat es ihm nach. Wir standen Aug in Aug, gleich groß. Auf Wiedersehen. Meine Stimme. Nach zwei Jahren des Schweigens war sie von gläserner Durchsichtigkeit. Auf Wiedersehen. Das war es. Ein krispes Aufeinandertreffen von Konsonanten und Vokalen. Noch einmal verstummte ich. Danach brach es aus mir heraus: Mein Name ist Taguchi Hiro. Ich bin zwanzig Jahre alt. Zwanzig ist das Alter, das ich mir ausgesucht habe. Ich verbeugte mich, linkisch, blieb in der Verbeugung, bis er gegangen war. Sonderbare Genugtuung: Ich kann das noch. Mich jemandem vorstellen. Ich habe es nicht verlernt. Auch wenn mir mein Name auf der Zunge zerkrümeln mag.

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      Während ich nach Hause ging, spann ich seine Geschichte weiter. Vielleicht hatte es gereicht, dass er sich mir anvertraut hatte, und er würde an diesem Abend noch heimkehren und sich aussprechen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde er es so lange hinausschieben, bis die letzten Ersparnisse aufgebraucht wären. Und vielleicht war es gerade das, worauf er wartete: Dass Kyōko dahinterkäme. Dass sie eines Tages aufwachte, mit dem mulmigen Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie würde Nachforschungen anstellen, ihm auf die Schliche kommen, ihn zur Rede stellen. Und vielleicht waren wir uns eben darin ähnlich. Wir sahen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge geradezubiegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren. Um gleichzeitig und unabweisbar festzustellen: Dass es uns nicht möglich ist, nicht von hier, nicht von jetzt aus, das, was geschehen ist, rückgängig zu machen. Und vielleicht war deshalb seine Geschichte auch die meine. Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.

      So viele Menschen, die nach Hause gingen. So viele Schuhe im Gleichschritt, ich kam aus dem Takt. Dort vorne, unter der Straßenlaterne, sah ich Vater, wie er an einem blühenden Strauch vorbei, den Blick stur zu Boden, von der Arbeit kam. Er sah mich nicht. Ich hatte mich rechtzeitig hinter einem Getränkeautomaten versteckt. Ich wollte uns, ihm und mir, die Peinlichkeit ersparen, uns auf offener Straße zu begegnen und nichts zu sagen zu wissen. Erst als er um die Ecke gebogen war, tat es mir leid, ihm nicht wenigstens einen Guten Abend gewünscht zu haben.

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      Ein herrlicher Tag, was? Wenn der Himmel so blau ist, würde man am liebsten ans Meer hinausfahren. Schade eigentlich. Er sah kopfschüttelnd an sich herunter. Da habe ich frei und bin es doch nicht. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Er setzte sich. Seufzte. Taguchi Hiro also. Ich dachte ja schon, du seist stumm und irgendwie, ich gebe es zu, wäre mir das sogar recht gewesen. Natürlich nicht wirklich, wenn du verstehst. Er kratzte sich am Kinn. Vor dem Grün der Bäume hinter ihm warf eine Läuferin die Arme in die Luft. Sie trabte weiter, rotes Stirnband. Von der Straße kam leises Gehupe. Das Geräusch von Autos, an- und abschwellend. Es verfing sich in den Büschen ringsherum, blieb außerhalb des innersten Kreises, der uns umschloss.

      Er fuhr unvermittelt fort. Irgendwie wäre es mir recht, wenn Kyōko wüsste, dass ich hierher komme. Sie tröstet mich, die Vorstellung, sie wüsste, instinktiv, aus ihrem Bauch heraus, wäre, weil sie es wüsste, meine Komplizin, machte mir zuliebe mit. Erbärmlich, nicht wahr? Die Vorstellung, sie würde aus freien Stücken mitmachen. Heute früh, als sie mir die Krawatte band, sagte sie, und sie sagte es ernst: Wenn man nur verrückt genug wäre, alles anders zu machen. Einmal auszubrechen, sagte sie und holte kurz Luft. Das wäre der Moment gewesen, ihr zu gestehen, dass ich längst draußen bin. Aber da hatte sie die Krawatte schon fertiggebunden und was blieb, war alleine die Scham. Ich schäme mich meiner Scham. Wie viel Kraft ich dafür aufwende, sie vor mir selbst und Kyōko zu verbergen. Denn es ist doch so: Ich habe nicht nur meine Arbeit verloren. Der Verlust, der am schwersten wiegt, ist der der Selbstachtung. Mit ihm fängt aller Niedergang erst an. Wenn man am Ende eines überfüllten Bahnsteigs steht, die Lichter des herannahenden Zuges sieht und sich dabei ertappt, den einen Augenblick zu berechnen, in dem ein Sprung auf die Gleise den sicheren Tod bedeuten würde. Man tritt einen Schritt nach vorn. Man spürt jetzt! jetzt! jetzt! und dann: Nichts! So ein dunkles Nichts! Nicht einmal dafür taugt man noch. Der Zug fährt ein. Er ist voller Menschen. Man spiegelt sich in den Fenstern, die an einem vorübergleiten, und erkennt sein eigenes Gesicht nicht mehr.

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      So! Er straffte sich. Nun aber Schluss. Ich rede und rede. Du musst denken, ich könne keinen Punkt setzen. Genug von mir. Jetzt bist du dran. Erzähl mir was.

      Was?

      Ganz egal. Das erste, was dir einfällt. Ich höre zu.

      Und damit lehnte er sich zurück und schien tatsächlich nichts anderes vorzuhaben, als zuzuhören.

      Wo anfangen? Ich suchte nach einem Wort, das seinem letzten gerecht werden würde. Es ist schwierig, sagte ich. Das erste, was mir einfällt, ist, dass es schwierig ist, etwas zu erzählen. Jeder Mensch ist eine Ansammlung von Geschichten. Ich aber. Ich zögerte. Ich habe Angst davor, Geschichten anzusammeln. Ich wäre gerne nur eine, in der nichts passiert. Angenommen, Sie werfen sich morgen früh vor den Zug. Was gälte dann das, was ich Ihnen heute erzähle? Und ist es überhaupt von Gültigkeit? Wie gesagt. Es ist schwierig. Das erste, was mir einfällt, ist: Wir treiben auf schmelzendem Eis.

      Ein hübscher Satz. Er wiederholte ihn. Wir treiben auf schmelzendem Eis. Von dir?

      Nein, nicht von mir. Von Kumamoto. Ich schluckte. Von Kumamoto Akira.

      Das Sprechen überschwemmte mich. Ich war ein ausgetrocknetes Flussbett, in das nach Jahren der Dürre ein starker Regen fällt. Der Boden saugt sich schnell voll und danach gibt es kein Halten mehr. Das Wasser steigt und steigt, über die Ufer hinweg, reißt


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