Mein Herz hört deine Worte. Joanne Bischof
alten Brandes über den Boden, entkorkte es und goss sich ein Trinkglas voll. Dieses stellte er neben dem Rest seines Abendbrotes auf dem Boden ab. Nach ein paar Bissen des saftigen Fleisches trank er. Der Geschmack nach süßem Apfel floss ihm über die Zunge, gepaart mit der perfekten Menge des natürlichen Gerbstoffes. Weder zu süß noch zu bitter. Ein berauschendes Gefühl legte sich auf seine Sinne und etwas sagte ihm, dass er vorsichtig mit diesem Destillat umgehen musste. Sogar für ihn hatte dieser Schnaps es in sich.
Thor hatte sich vorgenommen zu arbeiten, während er aß. Darum nahm er nun einen großen Bissen zu sich und griff dann nach einem Stück Kreide, mit dem er das Fass nummerierte. Sein Nummernsystem würde den meisten Leuten ziemlich wahllos vorkommen, aber Haakon kannte jeden seiner Codes und wusste, an wen das Fass geliefert werden sollte. Auf der Werkbank suchte Thor nach seinen Aufzeichnungen und las. Dann schritt er zielsicher auf das Regal an der längsten Wand zu, griff nach einem großen Glas Tafelschnaps und beschriftete den Deckel. Anschließend ließ er das Glas in eine Transportbox gleiten und schüttete Sägespäne an alle vier Seiten.
Als Nächstes stand die O’Malley-Familie auf der Liste. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde die älteste Tochter bald heiraten. Thor überlegte, wie viel man für eine solche Gelegenheit an Spirituosen brauchte, und packte dementsprechend viel zusammen. Nachdem eine weitere Box gefüllt war, prüfte Thor seine Aufzeichnungen und aß derweil einen weiteren Bissen von Avas merkwürdig gewürztem Braten. Nicht dass es nicht lecker gewesen wäre. Nur eben ungewohnt.
Wieder machte er sich an die Arbeit und musste mehrmals hin- und herlaufen, um die letzten acht großen Gläser seines besten Brandes herüberzutragen. Der Edelbrand schmeckte in dieser Jahreszeit am besten, wenn er mit Eis serviert wurde. Gereift war er in alten Bourbon-Fässern, für deren Erwerb Jorgan den ganzen Weg nach Lexington gefahren war. Dieses Destillat erzielte bisher den höchsten Preis und obwohl die meisten Gläser bereits verkauft waren, kamen immer neue Anfragen herein. Thor musste wählerisch sein, entschied sich so für seine besten Käufer und nummerierte dementsprechend die Gläser. Dann schrieb er eine Notiz an Haakon und bat ihn, nicht weniger als einen Dollar pro Glas zu nehmen. Eine weitere Notiz war an Jorgan gerichtet, in der er ihn an die Beschaffung neuer Bourbon-Fässer erinnerte.
Mit diesen Gläsern wollte Thor besonders vorsichtig umgehen und wickelte jedes einzeln in Zeitungspapier ein, bevor er sie in den Boxen verstaute. Erst faltete er die Zeitung auseinander, stellte dann ein Glas auf den von Präsident Harrison herausgegebenen Druck und rollte anschließend das Glas fest ein.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Thor plötzlich etwas Weißes und er sah auf. Gerade segelte die Eule auf einen der Giebelbalken zu und ließ sich darauf nieder. Oft hatten sich Jorgan und Haakon über das Geschrei des Vogels beschwert. Einmal hatte Thor seine Brüder gebeten, das Wort K-R-E-I-S-C-H-E-N zu beschreiben, und Haakon hatte geantwortet, dass es ein scharfer, schmerzvoller Ton war. Seitdem versuchte sich Thor solch eine Wahrnehmung vorzustellen, wann immer sein gefiederter Freund erschien.
Mondlicht fiel durch eine fehlende Latte weit oben in der Wand. Diese Lücke erlaubte es der Eule zu kommen und zu gehen, wann immer es ihr beliebte. Thor bekam nicht immer mit, ob die Eule gerade da war oder nicht. Die Scheune war einfach zu riesig dafür. Als seine Brüder und er noch Kinder gewesen waren, waren sie mit einer Seilschaukel in der Mitte der Scheune so weit und hoch geschwungen, wie sie nur konnten, während Pa gearbeitet hatte.
Wieder wandte Thor sich seinem Abendessen zu. Er brach ein Stück Brot ab und kaute, während er abermals seine Aufzeichnungen durchsah. Nach einem weiteren Bissen war er froh darüber, dass Ava ihn nicht dabei beobachten konnte, wie er diese riesigen Mengen an Essen in sich hineinschlang. Aber vielleicht hatte sie auch nicht vorgehabt, ihn die Nacht über hungern zu lassen. Vermutlich war sie einfach daran gewöhnt, das zur Verfügung stehende Essen zu rationieren. Ihrem mit einer Sicherheitsnadel zusammengehaltenen Rockbund nach hatte sie gelernt, mit dem wenigsten auszukommen.
Nachdem Thor seine Hosenträger heruntergelassen hatte, griff er nach einer leeren Transportbox und stellte sie auf die Werkbank. Dann füllte er sie mit Tafelwein. Dieses Destillat war weniger intensiv und auch der Alkoholgehalt hielt sich im Gegensatz zu dem teuren Edelbrand in Grenzen, dafür schmeckte es eigentlich jedem. Darüber hinaus war diese Sorte sein günstigstes Destillat, weshalb selbst seine armen Kunden monatlich ein oder zwei Gläser bezahlen konnten. Während Thor die Gläser durchzählte, berührte er den Metalldeckel jedes Glases mit dem Finger. Wenn er sich nicht verzählt hatte, würde er für die nächste Auslieferung achtzig große Gläser zusammenpacken müssen.
Dreimal im Monat lieferten sie aus und um diese Tage herum war ihm immer mulmig zumute. Schnell konnte es passieren, dass sich der Hitzkopf Haakon bei seinen Fahrten Ärger einfing. Das war einer der Gründe für Thors regelmäßige Kontrollritte. Und definitiv einfacher, als Haakon in seiner Position zu ersetzen. Sein Bruder war ein gerissener Händler, der ihnen mit seiner pfiffigen Art zu handeln die Geldbeutel mit Scheinen füllte. Und darüber würde er sich sicherlich nicht beschweren.
Thor griff nach sechs weiteren Gläsern, um die Box zu füllen, und bedeckte den Inhalt wie immer mit Sägespänen. Mit einem Blick auf seine Liste markierte er die Kiste mit der Nummer des Empfängers. Gerade wollte er eine weitere Kiste auf die Werkbank heben, als die Tür aufflog.
Haakon kam hereingerauscht: „Wir haben Ärger!“ Grete trottete neben ihm herein und brachte Haakon beinahe zum Stolpern. „Mach, dass du hier herauskommst. Beeil dich!“, rief er Thor zu.
Dieser tat, wie ihm geheißen war, und folgte schnell seinem Bruder. Zu gerne wäre er in der Lage gewesen, ihm hinterherzurufen und nach dem Grund der Aufregung zu fragen.
Kaum hatte Thor die Küche betreten, erblickte er Idas Schwester. Zwischen ihren Rockfalten stand die kleine Georgie und klammerte sich an die Frau. Sofort wusste Thor, was los war.
Coras schlichtes Kleid war schmutzig, als wäre sie auf ihrem Weg hierher in Eile gewesen. Ihre Haut war einen Ton heller als die von Ida und auf ihrer Wange prangte ein übler Schnitt. Am Fenster standen Coras erwachsene Kinder, denen es nicht besser zu gehen schien. Tess untersuchte eine Wunde an dem Hals ihres Bruders Al, dessen Hemd vor Schweiß triefte.
Also waren sie wohl gewarnt worden. Dass die Gefahr echt war, wurde durch Haakons Verhalten bestätigt, der Grete in das Haus zerrte und sie in Sicherheit brachte.
Als Thor sich umwandte, bekam er gerade noch rechtzeitig mit, wie sein Bruder fragte, wie weit die Klan-Mitglieder entfernt seien.
„Fast hier“, antwortete Al, während er nach Luft schnappte. „Sie saßen uns direkt im Nacken. Mindestens ein Dutzend von ihnen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es noch schaffen.“
„Haben sie euch was angetan?“, wollte Jorgan wissen.
Thor sah zwischen den beiden Männern hin und her.
Al schüttelte den Kopf, aber sein Kiefer verhärtete sich. Nicht einmal ein Jahr war es her, dass Al mit einer Pistole einen über den Schädel gekriegt hatte. Und alles nur, weil er einem der weißen Sorrel-Mädchen beim Vorbeigehen auf der Straße zugelächelt hatte. Erst Stunden später hatte man ihn halb tot im Graben gefunden. Jorgan und Thor hatten ihn nach Hause getragen. Drei Tage hatten die Frauen gebraucht, um Al von der Schwelle des Todes zu holen.
„Hast du die Brennerei abgeschlossen?“, fragte Jorgan und Thor nickte.
Dann wandte er sich zur Tür und blickte nach draußen in die Dunkelheit. A-V-A? Wo?
Jorgan schüttelte den Kopf.
Haakon legte zwei Schrotflinten auf den Küchentisch. Er schob Avas begonnene Flickarbeiten zur Seite und stellte einige Munitionskisten daneben. Obwohl Thor es nicht gesehen hatte, musste Haakon nach Ida gefragt haben, denn Al antwortete:
„Sie ist Wasser holen. Ich werde ihr helfen.“ Dann verschwand er nach draußen.
Thor ging in den Großen Raum, weil er Ava dort vermutete, doch der Raum war leer. Zurück in der Küche schlug er Jorgan auf den Arm, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen. Er deutete auf die anderen Anwesenden. Sie A-V-A gesehen?
Jorgan gab die Frage an die