Mein Herz hört deine Worte. Joanne Bischof
Junge spannte seinen Kiefer an, rührte sich aber nicht vom Fleck.
Dann griff der Anführer der kleinen Gruppe in seine Robe und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Langsam bewegten sich die langen Finger der behandschuhten Hand, als sie das Mitbringsel auseinanderfalteten. Der staubige Saum der Robe glitt über gemusterte Stiefel. In der Luft hing der penetrante Geruch von Rauch.
Die Kapuze neigte sich nach vorn, als die Gestalt zu lesen begann: „Hiermit klagen wir Sie der unerlaubten Vergabe unangemessener Freiheit an.“ Der Mann sprach mit tiefer, langsamer Stimme, die seine Identität verbarg. „Weil Sie jenen das Recht gegeben haben, faul und aufmüpfig zu werden, die zu harter Arbeit geschaffen worden sind.“
Während er sprach, zitterte der steife Stoff vor seinem Mund. „Sollte dieser Warnung unserer noblen Gemeinschaft Glauben geschenkt werden, so zweifeln wir nicht an dem Erwachen einer höheren Gesinnung, die der unseren gleich ist. Wer immer sich dagegen sträubt, riskiert die eigene Seele. Sie wird ihm aus dem Leib geprügelt werden, bis sie sich von dem erbärmlichen Käfig seines Leibes befreit hat.“
Obwohl er nicht eins der vorgelesenen Worte kannte, hechtete Thor auf den maskierten Mann zu und blieb nur eine Armeslänge von ihm entfernt stehen. Sein Blick war starr auf den Kapuzenmann gerichtet, der nun jedem der drei Brüder hintereinander zunickte. Thor war unerschrocken wie ein wilder Bulle, doch als sein Blick mit dem seines älteren Bruders verschmolz, zeigte sich Verletzlichkeit auf seinem Gesicht.
„Wir, die wir selbst nur als bescheidene Aufsicht fungieren, sehen uns zu diesem Aufruf gezwungen. Als jene, die über Gesetz und Heiligkeit wachen, müssen wir diese übergeordneten Werte hochhalten und ehren. Diese Nachricht sollte beherzigt werden, bevor Blut vergossen werden muss.“
Der Mann faltete das Blatt ebenso bedächtig zusammen, wie er es aufgefaltet hatte, und schob es zurück in seine Kutte.
Für einen Moment herrschte Stille. Dann rief Haakon herab: „Das hast du bestimmt alles selbst geschrieben, nicht wahr?“ Jorgan warf ihm einen warnenden Blick zu.
Plötzlich bewegte sich die verhüllte Gestalt auf Ava zu und neigte den Kopf, um sie anzusehen. Der weiße Stoff seiner Kapuze flatterte in der Zugluft des kaputten Fensters und der Tür, wodurch sich die leblosen Schlitze über den Augen gespenstisch bewegten. Er beugte sich herab, um Ava besser sehen zu können.
Immer näher kam der Mann, bis Haakon plötzlich rief: „Noch einen Schritt näher und ich schieße dir die Füße weg, Peter Sorrel!“
Die gespenstische Gestalt sah hinauf zu der Stelle, an der Haakon noch immer zusammengekauert auf dem Balken hockte. Das Holz knarzte, als er sich bewegte, um zu zielen. „Oder meinst du wirklich, dass wir zu dumm sind, um zu wissen, dass du der einzige Trampel weit und breit mit solch riesigen Füßen bist?“
Finster kichernd wandte sich der Mann ab und blickte stattdessen wieder zu Ava. Eine endlos lange Zeit, sodass Ava das Blut in den Adern gefror. Sich hinkniend neigte sich die Gestalt näher der am Boden kauernden Gruppe zu und beäugte nun das kleine Mädchen, das laut zu weinen begonnen hatte. Er griff in seine Robe und streckte dann die behandschuhte Hand aus, als wolle er ihr etwas geben. Ida zog das Mädchen näher an sich heran. Wenn Blicke töten könnten, hätte dieser Mann bereits längst in einem Grab gelegen.
Endlich erhob er sich wieder und ließ ein Fadenknäuel neben dem Kind auf den Boden fallen. Dann drehte er sich um und verschwand hinaus in die Nacht. Die beiden anderen Gestalten folgten ihm. Auf ihrem Weg nach draußen rissen sie mehrere Rahmen von den Wänden, deren Glas klirrend auf dem Boden zerbrach. Einen Moment später ertönte ein mächtiges Geschepper aus der Küche, als die Männer den Tisch mitsamt allem, was darauf war, umwarfen.
Niemand bewegte sich, als schließlich Stille einkehrte.
Dann trat Thor über knirschende Glassplitter hinweg und schloss die Tür. Für einige Zeit stand er am Fenster, als würde er das Ausmaß des Feuers abschätzen wollen. Ohne eine Miene zu verziehen, starrte er nach draußen. Seine Ruhe ließ ahnen, dass die Gefahr sich nicht ausbreitete.
„Sie verschwinden“, sagte Haakon und entsicherte seine Flinte. Bevor er sich mit einem dumpfen Aufprall auf den Tisch gleiten ließ, hängte er sie sich wieder über die Schulter. Das kleine Mädchen wurde stiller, während ihr Weinen in regelmäßigen Schluckauf überging. „Die haben Al wehgetan. Die haben das gemacht“, schluchzte sie.
„Sch…“, murmelte Ida und wiegte das Mädchen sanft wie das Mondlicht. „Sie werden ihm nicht mehr wehtun. Nie mehr.“ Ida versuchte nach einer Decke zu greifen, aber ihr Arm war nicht lang genug. Mit dem starken Wunsch, irgendwie behilflich sein zu können, stand Ava auf, doch Jorgan bat alle, bis zum Morgen außer Sicht zu bleiben. „Morgen haben wir genug Zeit, um uns um das Durcheinander zu kümmern.“
Morgen. Wie sehr sich Ava danach sehnte. Idas Schwester holte ein paar Decken aus einem Regal und Ava half ihr dabei, ein Deckenlager auf dem Boden auszubreiten. Bald schon hatte Ida das Mädchen darauf schlafen gelegt und streichelte ihr über das tiefschwarze Haar. Dabei erfuhr Ava den Namen des Kindes: Georgie. Ihre ältere Schwester stellte sich als Tess vor. Derweil saß der Bruder der Mädchen, Al, auf dem Boden und starrte aus dem Fenster.
Nachdem es sich jeder von ihnen weitgehend gemütlich gemacht hatte, waren einige der Decken noch unbenutzt. Ava sah sich nach Thor um. Sie griff nach einer karierten Wolldecke, die sie ihm anbieten konnte, doch er war nirgends zu sehen.
Haakon lief hinüber zu der Stelle, wo Georgie tief und fest schlummerte, und tippte ihr auf die Nasenspitze, bevor er ihr sanft über die Schulter streichelte. Eine fast schon familiäre Geste. Dann sah er nach Tess, drückte sanft den Arm der hübschen, jungen Frau und wandte sich dann an Ava. Behutsam berührte er mit den Fingerspitzen ihre Wange. „Du hast da eine ganz schön böse Schramme.“
„Ich weiß. Nicht nur da“, antwortete Ava.
Er grinste, als hätte er ihr Gerangel mit Thor beobachtet. Ava war froh, dass er es nicht getan hatte. Obwohl sie in Haakons blaue Augen hinaufsah, konnte sie an nichts anderes denken als an den verletzten Blick in Thors Augen. Wie er diese Bewegungen gemacht hatte – sein stummes Flehen danach, ihr zu zeigen, dass sie bei ihm sicher war. In diesem Moment fühlte sich Avas Kehle so zugeschnürt an wie an ihrem Ankunftstag auf der Farm. Das Schlucken fiel ihr schwer.
Haakon wandte sich ab und trat zu Jorgan ans Fenster. Flüsternd unterhielten sie sich.
Die alte Standuhr am anderen Ende des Raumes erinnerte mit ihrem Läuten an die späte Stunde. Mittlerweile machten sich die vielen blauen Flecken auf Avas Körper bemerkbar und ließen jede Bewegung auf dem Boden zu einer Qual werden. Trotzdem hatte sich Ava vor dem Schlafengehen noch nie so sicher gefühlt. Nicht mit Benn und sicherlich nicht in den Schlafsälen des Armenhauses. An das Anwesen, in dem sie als Kind mit ihrer Mutter gelebt hatte, konnte sie sich kaum noch erinnern. Von Jahr zu Jahr wurden die Erinnerungen brüchiger, ähnlich den vom Baum gefallenen Blättern, die mit der Zeit verrotteten und schließlich ganz zerfielen.
Jetzt war sie hier und für diese Menschen, diesen Ort, war sie unendlich dankbar.
Auch Al griff nach einer Decke und einem flachen Sofakissen und legte sich auf den Boden. Seine Waffe lag neben ihm auf dem Boden und obwohl er bereit war, jederzeit aufzuspringen, schien er vorerst ruhig zu werden.
Avas Augenlider wurden schwer und sie schloss die Augen. In der Stille lauschte Ava dem leisen Säuseln des Windes. Und dem beruhigenden Geräusch von den Schritten der Norgaard-Brüder, die sich nun ebenfalls schlafen legten. Während Ava in den Schlaf hinüberglitt, bemerkte sie nur vage, wie der Leiseste der Truppe sein Nachtlager neben ihr aufschlug.
Sechs
Immer würde Ava sich an den Moment erinnern, als sie von dem Tod ihres Mannes erfahren hatte. Sie war abends ausgegangen, um Fisch zu kaufen. Als sie in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte, ließ sich die Tür nicht öffnen. Es brauchte die Hilfe ihres Vermieters und den Einsatz seiner Werkzeugkiste, bevor sich das Schloss knacken ließ. Anschließend betrat Ava eine Welt, die niemals dieselbe