Auf den Punkt gebracht. Lotte Tobisch
mit dem, was uns das Leben zukommen lässt: jene Gesamtheit aller Eindrücke, die das Alter von der Jugend trennt.
Aber während Lebenserfahrung auf subjektivem Wissen beruht, schaut ja das aufgeklärte Objektive zumeist verachtungsvoll auf das aufklärungsunwürdige Subjektive herab. Vor allem, wenn eine neu veröffentlichte Studie das bisher Geglaubte widerlegt.
Nun möchte ich keinen Zweifel daran lassen, dass die Wissenschaft der Menschheit viel Glück und Segen beschert hat. Doch dort, wo sich eine Weltanschauung selbst zu feiern beginnt, ist es mit der Objektivität schnell vorbei, und noch schneller, wenn Geld und Macht mitbestimmende Faktoren sind. Wissenschaft als Geschäft verstärkt die Neigung, eigene »Ergebnisse« schönzureden.
Daher plädiere ich für einen wohlüberlegten Umgang mit neuen wissenschaftlichen Studien. Doch Vorsicht scheint mir auch hier geboten, sind ja diese Studien nichts anderes als Grundlagen für weitere Studien. Wissenschaftlich haltbare Beweise habe ich dafür keine, doch rät mir meine über 90-jährige Lebenserfahrung dazu − und mit der bin ich bisher recht gut gefahren.
Wir hetzen der Freizeit hinterher
Es ist so weit: Demnächst wird unser liebstes Spielzeug, das Automobil, das Versprechen seines Namens, auto-mobil, endlich einlösen. Wie uns schon jetzt die Waschmaschine, der Geschirrspüler, der Rechner und die gesamte Internetpalette das Selbstarbeiten und -denken ersparen, so wird demnächst das Lenken beim Autofahren ebenfalls obsolet sein − und dem Lenker damit zusätzliche Freizeit beschert werden.
»Die Zeit, die ist ein sonderbar’ Ding«, stellt die Marschallin im Rosenkavalier fest. »Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann, auf einmal, da spürt man nichts als sie.« Und so ist es auch. Denn je mehr Zeit die Menschen für sich zur Verfügung haben, desto mehr geht sie ihnen ab, hetzen sie ihr hinterher, bis zur Erschöpfung. Und falls sie dann doch einmal einen Zipfel der davongelaufenen Zeit zu fassen bekommen, müssen sie erkennen, dass es nicht ihre Freizeit ist, der sie nachgehetzt sind, sondern dass diese längst vom professionellen Freizeitnutzungswirtschaftssystem geschluckt wurde, dessen Daseinszweck und Zauberwort »Shoppengehen« heißt. Wie sagt die Marschallin am Schluss des Monologs? »Und man ist dazu da, dass man sie erträgt.« Doch in dem Wie liegt der ganze Unterschied.
Wäre es nicht paradox, wenn man die in Gang gesetzte Automatisierung aller Lebensbereiche nach Lust und Laune entautomatisieren könnte? Lassen sich selbstständig handelnde Systeme und Maschinen so mir nichts dir nichts vom Menschen ins Handwerk pfuschen, hat doch dieser ihnen die Lösung seiner Aufgaben und Probleme auf Gedeih und Verderb überantwortet? Was ist dagegen zu sagen, wenn sich die mittlerweile sich vertausendfachenden Windräder über den Feldern und Gewässern unermüdlich und vor allem selbstständig in den Wind drehen?
Eigentlich nichts, außer dass einem beim Stellen dieser Fragen ein wenig mulmig wird. Es könnte sein, dass die selbst denkenden Automaten in einer unmittelbaren Zukunft nicht so freiwillig wie wir auf die Freiheit ihrer Selbstbestimmung verzichten werden. Oder hat der von Automatismen umgebene Mensch vergessen, was uns die Kunst bereits zu Beginn der Automatisierung gelehrt hat? Man denke an Goethes Zauberlehrling, der den harmlos dienlichen Besen zum nicht mehr gehorchenden Automaten verfremdet.
Ein Vierteljahrhundert nach Entstehung dieses epochalen Werkes über Segen und Fluch der für den Menschen arbeitenden Automaten schuf der Pädagoge Friedrich Fröbel die Wortkomposition »Freizeit«. Sie bezeichnete jene selbst zu gestaltende Zeit, die er den ihm anvertrauten Zöglingen aus pädagogischer Einsicht »zur Anwendung nach ihren persönlichen und individuellen Bedürfnissen« freigab − eine Befreiung von Auferlegtem zum Zwecke autonomer Entfaltung. Jene Voraussetzung, um den von uns geschaffenen Automaten der Zukunft die Stirn bieten zu können.
Geschichten vom hohen Ross
Es ist immer wieder erstaunlich, was unseren Politikern, egal, ob von rechts oder links, alles einfällt, um in ihrer jeweiligen Funktion von ihren Wählern wahrgenommen zu werden. So konnte man zum Beispiel lesen, dass dem zuständigen Minister anlässlich der beabsichtigten Neugestaltung des Heldenplatzes auf die Frage nach der Möglichkeit einer Entfernung der beiden Denkmäler keine bessere Antwort einfiel als: »Da würde wohl das Denkmalamt Einspruch erheben.«
In Anbetracht dieses Ministerworts sollte man das Denkmalamt um Aufstellung eines dritten Pferdes ersuchen: ein reiterloses Pferd, reserviert für die Ideenvorreiter aller politischen Couleurs zwecks der jeweiligen Heilsverkündigung mittels Selbstdarstellung. Vom hohen Ross verkündet, wäre ja auch die Öffentlichkeit besser informiert und uns vielleicht erspart geblieben, dass Dominique Meyer und Agnes Husslein, zwei der erfolgreichsten Leiter unserer Kulturtempel, in die Wüste geschickt werden. Und auch, dass das als Haus der Geschichte Österreich konzipierte Museum nun zur Darstellung eigener Bedeutung von 1000 auf 100 Jahre heruntergeschrumpft wird. »Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd«, sagt Richard III.
Um es vorweg klarzustellen: Nicht wir Österreicher, sondern die Franzosen tragen die Schuld für den ewigen Zores mit unserem heiß geliebten, viel geschmähten Heldenplatz. Denn wenn deren Besatzungstruppen 1809 nicht einen Teil der Burgbastei mutwillig in die Luft gesprengt hätten, wären die genügsamen Wiener vermutlich nie auf die Idee gekommen, den Bereich vor der Hofburg einzuebnen und als Erholungsraum zu gestalten. Damit begann die Misere nicht enden wollender Debatten darüber, wer hier wie verewigt werden soll.
So feiert das Getue um den Platz seit einigen Jahren wieder fröhliche Urständ. Politiker, deren Amtszeit so kurz ist, dass nicht einmal Denkmäler ihre Namen in Erinnerung rufen könnten, verkünden die Neugestaltung und Neubenennung des denkmalgeschützten Ortes, als ob es sich um ihre private Spielwiese mit daraufstehendem Sandkasten handle.
Dabei gehört der Heldenplatz, wie ihn mittlerweile Millionen im In- und Ausland kennen, zum kulturell Sehenswertesten, was die Stadt zu bieten hat. Zeitlebens habe ich diesen einzigartigen Ort auf meinem Weg zum Burgtheater genossen und versucht, meinen von auswärts kommenden Gästen die Einmaligkeit des Gesamtkunstwerkes Wien mit der Passion des Einheimischen näherzubringen. Heute frage ich mich, ob die Wienerinnen und Wiener diese Passion für den historisch-kulturellen Wert ihrer Stadt noch teilen.
Aber wird nicht zu guter Letzt jeder, der sich auf Wien einlässt, unweigerlich mit den drei von Arthur Schnitzler überlieferten Floskeln »Wie komm denn i dazu? Es zahlt sich ja net aus! Tun S’ Ihnen nix an!« konfrontiert?
Zu Kaisers 187. Geburtstag
Für den österreichischen Monarchiebürger war der 18. August in doppelter Hinsicht ein bemerkenswertes Datum. Es war der Geburtstag des Kaisers und gleichzeitig der Stichtag, den man als Anfang vom Ende des Feriensommers bezeichnete. Jener Jahreszeit, die vor allem die Bürger der Städte, wenn irgend möglich, in der ersehnten frischen Luft verbrachten. So war es seit Menschengedenken, und der franzisko-josephinische erratische Block von drei Generationen war der Garant für unerschütterliches Weiterbestehen. Die nahe Katastrophe war unvorstellbar, war undenkbar.
Und was ist heute? Da können wir zwei spätpubertäre Staatshäuptlinge mit dem Entsetzen Scherz treiben sehen und einer EU zwischen Grenz- und Bananenkontrollen, ertrunkenen Flüchtlingen und totaler Hilflosigkeit zuschauen, während Gauner und Waffenhändler das Elend zu Geld machen. Die vierte Generation seit der Urkatastrophe 1918 ist schon geboren. Aber mehr als 70 Jahre relativen Friedens scheinen den Menschen nicht zumutbar zu sein. Da denke ich plötzlich an Kaisers Geburtstag als Anfang vom Ende des Feriensommers. Und mich fröstelt’s. Ich spüre den nahen Herbst. Und man kann nur hoffen, dass es ein milder wird.
Politische Krisenherde gab es zu allen Zeiten in allen größeren Kulturen. Daran hat auch die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit den, man möchte fast sagen erwarteten, Eskalationen im Ost-Westkonflikt wenig verändert. Auch das groß angelegte Friedensprojekt Europäische Union konnte, trotz der auf dem Kontinent beklagten 100 Millionen Toten im 20. Jahrhundert, keine der seither bedrohlichen Krisen verhindern.
Sicherheit als gemeinsames