Ein Wagnis aus Liebe. Susan Anne Mason
Erstaunt schaute er Grace an und gab einen leisen Pfiff von sich. „Da haben Sie sich aber ganz schön verirrt. Wo wollten Sie denn hin?“
„Ach, eigentlich nur etwas spazieren“, wich sie seiner Frage aus. Sie konnte ja schlecht zugeben, dass sie eigentlich vorhatte, eine der reichsten Familien Torontos auszuspionieren. So wie es aussah, war dieser Mann womöglich sogar ein Nachbar der Eastons. „Ich wollte mir etwas die Beine vertreten und frische Luft schnappen. Aber ich hätte vorsichtiger sein sollen. Die Stadt ist noch so neu für mich.“
„Ihrem Akzent nach kommen Sie wohl aus England?“
„Genau.“
„Und was hat Sie den weiten Weg bis nach Kanada gebracht?“
Schnell wich sie seinem durchdringenden Blick aus, er brachte sie völlig durcheinander. Stattdessen schaute Grace aus dem Fenster. Bis auf die Scheinwerfer des Wagens und einige Straßenlaternen am Bürgersteigrand war es dunkel. „Ich wollte immer schon reisen und habe viel Gutes über Toronto gehört“, erwiderte sie. Ihre privaten Angelegenheiten würde sie dem gut aussehenden Fremden sicherlich nicht mitteilen. Aber was sie sagte, war wenigstens nicht gelogen: Rose hatte nur in den höchsten Tönen von ihrer neuen Heimat gesprochen.
„Und dann sind Sie ganz allein hergekommen?“
Plötzlich musste Grace gegen eine Welle des Heimwehs ankämpfen und konnte nur wortlos nicken.
„Ganz schön mutig.“
„Vermutlich“, bejahte sie, obwohl sie sich in diesem Moment überhaupt nicht mutig, sondern eher dumm vorkam. Wie sollte sie mit dem verstauchten Fuß bloß eine Arbeit finden? So musste sie erst warten, bis er verheilt war.
„Ich bin übrigens Andrew. Und Sie sind …?“
„Grace“, antwortete sie knapp. Trotz seiner freundlichen Art wollte Grace nicht zu viel über sich verraten und schon gar nicht über den Tod ihrer Schwester oder den eigentlichen Grund ihrer Reise. „Ein reizendes Auto haben Sie“, fuhr sie fort und hoffte, dass sie ihn so von weiteren Fragen abhalten konnte. Auch wenn Autos sie eigentlich gar nicht interessierten und sie auch nichts darüber wusste.
„Danke. Mein Vater hat ihn mir überlassen, als er sich ein neueres Modell bestellt hat. Für meinen Geschmack ist er etwas zu protzig. Ich selbst hätte mir einen anderen ausgesucht, beispielsweise ein Model-T.“
„Ich befürchte, da kann ich nicht mitreden“, gab Grace mit einem Schulterzucken zurück. „Ich weiß fast nichts über Autos. Da, wo ich herkomme, gab es nur sehr wenige.“
„Dann muss Toronto ganz schön überwältigend für Sie sein, oder?“
„Ja, da haben Sie recht.“
„Und was machen Sie hier?“
Bevor sie etwas sagte, betrachtete sie sein hübsches Gesicht, sein goldbraunes Haar, das ihm schwungvoll in die Stirn fiel, seine schlanke Nase. Ein gepflegter Bart untermalte seine markanten Gesichtszüge. Alles an ihm strahlte Selbstbewusstsein aus. Was würde er bloß von einer Frau halten, die völlig planlos auf die andere Seite der Welt reiste und sich nun in einem Meer der Ungewissheit widerfand?
„Zurzeit arbeite ich etwas für die Kirche, der Pastor war so freundlich. Er hat mir seine Hilfe angeboten, bis ich etwas Richtiges habe.“
„Das wird sicherlich nicht lange dauern.“
Endlich bog er in eine Straße ab, die Grace bekannt vorkam. „Das ist die Jarvis Street“, sagte er. „Welche Hausnummer?“
Verlegen schielte Grace auf die Straße. „Lassen Sie mich einfach an der Kreuzung raus.“
„Nicht mit Ihrem Fuß. Ich bringe Sie bis vor die Tür.“
„Aber das ist wirklich nicht nötig.“
„Und wie wollen Sie die letzten Schritte gehen?“
„Ich schaffe das schon.“
„Tatsächlich? Wollen Sie auf einem Fuß durch die Gegend hüpfen?“, fragte er mit leicht amüsiertem Blick.
„Es ist nur … ich hätte längst schon wieder in der Pension sein müssen. Und wenn ich nun auch noch von einem Mann nach Hause gebracht werde … nun ja, ich möchte keine Missverständnisse aufkommen lassen“, erklärte sie und sofort schoss ihr Hitze in die Wangen. Was würde die gute Mrs Chamberlain von ihr denken? Würde sie sie nach diesem Regelbruch vielleicht sogar wegschicken?
Unbeirrt brachte Andrew das Auto am Bürgersteig zum Stehen. „Ich bin mir sicher, dass man Verständnis haben wird. Spätestens, sobald man Ihren Fuß sieht. Ich komme sonst auch gern mit Ihnen und erkläre alles.“
„Nein, danke. Wirklich nicht. Sie waren schon zu aufmerksam, vielen Dank. Bringen Sie mich zur Tür, aber hinein schaffe ich es selbst“, sagte sie entschieden und drehte sich erst von ihm weg, als er nachgab.
„Also gut.“
Grace nannte ihm die genaue Adresse und sie fuhren noch ein paar Häuser weiter bis zur Pension. Dort angekommen, stieg Andrew aus, ging auf die andere Seite des Wagens und half Grace beim Aussteigen.
Dank seines stützenden Arms schaffte sie es auch die wenigen Treppenstufen bis zur Tür. Dann hielt sie sich am Rahmen fest und suchte nach dem Schlüssel. „Tausend Dank noch einmal. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.“
„Es war mir eine Ehre“, entgegnete er mit einem Lächeln. „Den Rest schaffen Sie wirklich allein?“
„Ja, vielen Dank.“
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.“ Zur Verabschiedung hob er kurz seinen Hut und ging dann zum Auto. Am Tor blickte er noch einmal zurück. „Hoffentlich können Sie Ihren Aufenthalt hier in Toronto genießen, Miss Grace. Aber für künftige Spaziergänge würde ich Ihnen eine Straßenkarte empfehlen“, riet er ihr mit einem breiten Grinsen.
Lächelnd schaute Grace ihm nach, als er wegfuhr, und hinkte dann erst ins Haus.
Am nächsten Morgen saß Andrew an seinem Schreibtisch und spielte mit einem Stift, während er mit seinem Gedanken noch ganz bei der jungen Frau von gestern Abend war. Warum er überhaupt noch an sie dachte, wusste er nicht. Doch jedes Mal, wenn er sich wieder auf Celia konzentrieren wollte – die Frau, um die seine Gedanken eigentlich kreisen sollten –, drängte sich ihm ein unangenehmer Vergleich auf: auf der einen Seite Celia in ihrem bezaubernden Abendkleid mit funkelndem Juwelenschmuck und auf der anderen Seite Grace, in ihrem schlichten Stoffrock und einer Jacke, die weder der neuesten Mode entsprach noch besonders attraktiv war. Doch trotz der schlichten Kleidung und ihrer zurückhaltenden Art wirkte sie nahezu elegant. Und dann diese verblüffenden braunen Rehaugen – Andrew hatte kaum wegschauen können.
In diesem Moment öffnete sich Andrews Tür und sein Vater stolzierte herein. Als er seinen finsteren Blick entdeckte, setzte Andrew sich aufrechter. „Guten Morgen, Vater. Was kann ich für dich tun?“
„Dir etwas überlegen, wie du das Chaos von gestern Abend wiedergutmachen kannst“, antwortete sein Vater ganz unvermittelt und dachte gar nicht erst daran, sich zu setzen. Mit verschränkten Armen blieb er vor Andrew stehen.
„Ich nehme an, du redest über mein frühes Verlassen der Feier?“
„Damit hast du alles vermasselt, Junge. Kaum, dass du den Raum verlassen hast, war Cecilia von einem ganzen Schwarm junger Männer umgeben“, schnaubte er und beugte sich über den Schreibtisch, als wolle er damit seine nächsten Worte untermauern. „Ein ganz bestimmter Mann ist den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite gewichen.“ Pause. Offensichtlich wartete Andrews Vater auf eine Reaktion.
Andrew jedoch blieb ungerührt. „Ich hatte auch nicht erwartet, dass Cecilia den Rest des Abends allein in einer Ecke sitzt. Es war schließlich ihr Geburtstag.“
„Dann