Ein Wagnis aus Liebe. Susan Anne Mason
aufzuhängen. Vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden hatte Pastor Burke sie hierhergebracht. Der gutmütigen Hauswirtin war sofort aufgefallen, wie mitgenommen Grace war. Sie hatte sie lediglich zu ihrem Zimmer geführt, ihr ein Tablett mit etwas Brot und Tee gebracht und sie dann in Ruhe trauern lassen.
Stundenlang hatte Grace geweint, bis sie völlig aufgewühlt und von den Anstrengungen der Reise übermannt in einen tiefen Schlaf gefallen war. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich vom vielen Weinen ganz ausgetrocknet. Zuallererst nahm sie ein ausgiebiges, heißes Bad, zog frische Kleidung an und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Im Moment war es zu schwierig, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Stattdessen dachte sie über den heutigen Tag nach. Sie wollte Roses Grab besuchen und mit Pastor Burke und Mrs Chamberlain darüber sprechen, wie sie ihren Neffen sehen konnte. Erst wenn sie wusste, dass es dem kleinen Christian gut ging, wäre sie beruhigt.
Nachdem sie das Bett gemacht und ihre Reisetasche darunter verstaut hatte, schaute sie sich im Raum um. Über dem Bett lagen eine handgemachte blau-weiße Steppdecke sowie mehrere bunte Kissen. Farblich passten sie sehr gut zu denen auf der breiten Fensterbank. Auch ein Waschtisch, eine Kommode und ein Nachtschränkchen gehörten zum Mobiliar. Unter anderen Umständen hätte Grace den heimeligen Charakter dieses Zimmers sicher mehr wertschätzen können. Nun fragte sie sich, ob dies wohl auch Roses Zimmer gewesen war, als sie nach Toronto gekommen war.
Grace nahm einen Stapel Briefe aus ihrer Handtasche und setzte sich damit in die Fensterecke. Dort war es hell und man hatte einen herrlichen Ausblick. Sie öffnete den letzten von Roses Briefen, um vielleicht einen Hinweis darauf zu entdecken, wann sie krank geworden war. Doch auch beim erneuten Lesen fand sie keinerlei Andeutungen auf eine bedrohliche Krankheit.
„Ach, Rose“, seufzte Grace laut. „Hatte ich dir nicht gesagt, dass Kanada keine gute Idee war?“
Doch nichts hätte sie davon abbringen können, auch nicht der gut gemeinte Rat ihrer jüngeren Schwester. Damals schien es, als hätten die beiden die Rollen getauscht: Rose agierte aus einem Impuls heraus, während Grace vergeblich zur Vorsicht riet.
Sie steckte die Briefe wieder weg und schaute auf die Uhr. Sicherlich war Mrs Chamberlain bereits wach und bereitete das Frühstück für ihre Gäste vor. Grace fand, dass es an der Zeit war, sich der Gegenwart zu widmen. Und dazu brauchte sie Mrs Chamberlains Hilfe.
Entschlossen ging Grace die Treppe hinunter in den Salon. Jetzt fiel ihr auch die wohnliche Dekoration auf: Geblümte Sofas und Ohrensessel mit hoher Rückenlehne standen um einen Kamin und an der Wand hingen Landschaftsbilder aus England. Sie stellten grüne Weiden und ein kleines Cottage dar, das ihrem Elternhaus sehr ähnlich war. Eine alte graue Dame hob ihren Kopf, betrachtete Grace kurz und fiel dann wieder über ihr Buch gebeugt in den Sessel zurück.
„Guten Morgen, Grace. Wie schön, dass Sie auf sind und zu uns herunterkommen“, begrüßte Mrs Chamberlain sie aus dem Flur. Über ihrem Kleid trug sie eine Schürze mit Blumenmuster und in der Hand hielt sie eine große Teekanne. „Ich serviere gerade das Frühstück, falls Sie sich zu uns gesellen wollen?“, bot sie an, Mitgefühl in ihrem freundlichen Blick.
„Ich bin nicht sehr hungrig, aber über eine Tasse Tee würde ich mich freuen“, antwortete Grace und ging einen Schritt auf sie zu. „Und anschließend könnte ich Ihre Hilfe gebrauchen, wenn Sie einen Moment hätten.“
„Natürlich. Sobald ich mit dem Geschirr fertig bin, bin ich ganz Ohr.“
Am hinteren Ende des Holy Trinity Friedhofs bückte sich Grace über einen frischen Haufen Erde und legte einen Strauß Gänseblümchen darauf. Dann richtete sie sich wieder auf und schlang die Arme fest um ihren Oberkörper, als könnte sie sich auf diese Weise vor der Trauer schützen, die sie zu überwältigen drohte. An Roses Grab stand kein Stein, nicht einmal ein schlichtes Holzkreuz. Pastor Burke hatte ihr erzählt, dass die Kirchenmitglieder großes Mitleid mit der jungen Witwe gehabt hatten und nun für einen Grabstein zusammenlegten.
Wie konnte das nur geschehen, Rose? Hätte ich dich davor bewahren können, wenn ich früher gekommen wäre?
Ein kühler Frühlingswind wehte. Er hob den Saum von Graces Rock an und löste einige braune Haarsträhnen, die ihr nun ins Gesicht fielen. „Wie soll ich das nur Mutter erklären?“, flüsterte sie.
In ihren Gedanken erinnerte sie sich an eins ihrer letzten Gespräche.
„Das bist du mir schuldig, mein Kind. Das weißt du.“ Selbst von ihrem Krankenbett aus hatte ihre Mutter sie mit ihrem stählernen Blick wie festgenagelt und in Grace die Schuldgefühle hervorgeholt, die nur knapp unter der Oberfläche begraben lagen. „Das Mindeste, was du tun kannst, ist, Rose und meinen Enkel wieder nach Hause zu bringen.“
Den Blick auf die schlichte Grabstätte ihrer Schwester gerichtet, wischte sich Grace die Tränen von der Wange. „Ich werde alles dafür tun, dass es Christian gut geht. Irgendwie werde ich die Eastons dazu bringen, sich liebevoll um ihn zu kümmern. Und sollten sie das nicht tun, werde ich eine andere Lösung finden.“
Wie, wusste sie nicht. Aber sie vertraute darauf, dass Gott ihr zur rechten Zeit eine Tür öffnen würde.
Nach einem letzten Blick auf das Grab verabschiedete sie sich und ging in Richtung Kirche, wo Mrs Chamberlain auf sie wartete.
Gerade als sie bei der Treppe ankam, hörte sie ihren Namen.
„Hier, Grace, hier drüben“, rief Mrs Chamberlain vom Pfarrhaus herüber. „Kommen Sie und trinken Sie einen Tee mit uns. Drinnen ist es schön warm.“
Langsam ging Grace zu dem Haus. Die Einladung kam ihr gelegen, so konnte sie Pastor Burke weiter über die Eastons ausfragen. Und für einen Moment den tiefen Schmerz in ihrem Herzen vergessen.
Mrs Chamberlain erwartete sie an der Tür und führte sie in die Diele. In der Luft hing der süße Duft von Hefe und Zimt und Grace lief das Wasser im Mund zusammen. Außerdem erinnerte er sie daran, wie wenig sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gegessen hatte. So eingenommen war sie von der Trauer über ihre Schwester. Es fühlte sich beinahe falsch an, jetzt hungrig zu sein.
„Pastor Burke hat mich in der Kirche gesehen und mich eingeladen. Auf dem Tisch steht frisch gebackenes Brot, wenn Sie möchten.“ Die Einfühlsamkeit in Mrs Chamberlains Stimme erwärmte Grace das Herz.
„Oh, vielen Dank. Das klingt wunderbar“, bedankte sie sich und trat in die gemütliche Küche, wo sie Pastor Burke vor dem Ofen stehen sah.
„Willkommen, Grace. Setzen Sie sich doch. Das Zimtgebäck ist auch gleich fertig.“
„Sie backen, Pastor Burke?“, fragte Grace, als sie sich an einen runden Tisch mit roter Tischdecke setzte.
Fältchen umgaben seine Augen, als er lächelnd erklärte: „Eine Fähigkeit, die ich mir nach dem Tod meiner lieben Frau aneignen musste. Da ich so gerne esse …“ – und bei diesen Worten strich er sich über den Bauch – „blieb mir nichts anderes übrig. Harriet war so nett, mir etwas Nachhilfe zu geben“, sagte er und zwinkerte Mrs Chamberlain zu. Sie grinste.
Verunsichert darüber, wie leichtfertig die beiden über den Tod eines geliebten Menschen sprachen, schaute Grace sie ungläubig an. Für sie war dieses Thema viel zu groß, um es so beiläufig zu erwähnen.
Mit einem Spültuch in der Hand öffnete Pastor Burke die Ofentür, holte eine Backform heraus und stellte sie auf den Tisch. Sogleich platzierte Mrs Chamberlain zwei der Stückchen auf jeden Teller.
Grace überlegte, wie sie ein Gespräch beginnen könnte. „Leben Sie schon lange in Toronto?“, fragte sie schließlich. Vielleicht war das ein guter Startpunkt, um die beiden etwas besser kennenzulernen.
„O ja“, antworte Pastor Burke nur kurz und überließ zunächst Mrs Chamberlain das Wort.
„Ich kam schon als sehr junge Frau nach Kanada. Doch musste ich erst durch mancherlei Schwierigkeiten, bis ich meinen lieben Mann kennenlernte.