Ein Wagnis aus Liebe. Susan Anne Mason
bin Rose Eastons Schwester“, begann sie und merkte, wie sich das Lächeln des alten Mannes auf der Stelle löste. Tiefe Sorge spiegelte sich in seinen Augen wider.
„O meine Liebe. Mein Telegramm hat Sie wohl nicht erreicht?“
„Ihr Telegramm?“ Das Wort lief Grace eiskalt den Rücken herunter und ließ sie all das vergessen, was sie gerade hatte sagen wollen.
„Ja. Ich habe es zu Ihrer Mutter nach England geschickt“, erklärte der Pastor besorgt.
Der plötzliche Wunsch davonzurennen kam in Grace hoch, aber ihre Füße schienen am Boden festzukleben. „Uns hat nichts erreicht, nein. Ich bin gekommen, weil Rose mich hergebeten hat.“
Der Pastor stand auf, kam um den Tisch herum und setzte sich neben Grace auf einen Stuhl. „Nun, wie soll ich das sagen …“, begann er und schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. „Rose war an der Spanischen Grippe erkrankt. Es tut mir leid, aber sie ist vor etwa drei Wochen gestorben. Alles kam ganz unerwartet und ging sehr schnell …“
Grace war, als schnürte sich ihr Hals zusammen. „Nein“, flüsterte sie, „das kann nicht sein. Das hätte jemand … Das würde ich wissen …“
Traurig schüttelte der Pastor den Kopf. „Ich habe das Telegramm losgeschickt, so schnell ich konnte. Es ging an den Postmeister Ihrer Stadt. Ich weiß nicht, warum Sie es nicht erhalten haben.“
Grace versuchte sich zu erinnern, wo sie vor drei Wochen gewesen war. Das war ungefähr zu der Zeit, als Mutter zu Tante Violet gezogen war, um während Graces Abwesenheit nicht allein zu sein.
„Ich … das … nein, das kann nicht sein.“ Grace legte ihre Hand vor den Mund, um das Zittern der Lippen zu kontrollieren. „Ich sollte Rose doch wieder nach England bringen! Zu unserer Mutter.“ Der Gedanke daran, dass ihre Mutter diese schreckliche Nachricht erreichen würde, ohne dass Grace für sie da wäre, ließ heiße Tränen in Grace aufsteigen.
„Es tut mir so schrecklich leid, Miss.“ Eine warme Hand drückte ihr leicht die Schulter.
Apathisch starrte sie auf ein kleines Loch in einer der Holzdielen.
All die Pläne, ihre Familie wieder zu vereinen, Rose und den Kleinen nach Hause zu holen, lösten sich in Luft auf. Mit zittrigen Händen holte Grace ein Taschentuch hervor und wischte sich über die nassen Augen. „Was soll ich denn jetzt nur tun?“, flüsterte sie. „Ich hatte vor, mit Rose bei Mrs Gardiner zu wohnen. Sie wollte, dass wir endlich wieder zusammen sind …“, sagte sie und ein Schluchzen wurde laut.
„Das alles muss ein entsetzlicher Schock für Sie sein“, entgegnete der Pfarrer ruhig. Er ging zur Anrichte und schenkte ein Glas Wasser ein, das er Grace reichte. „Darf ich vorschlagen, dass ich Sie zunächst einmal zu meiner Freundin, Mrs Chamberlain, bringe? Sie führt die Pension, in der auch Rose direkt nach ihrer Ankunft untergebracht war. Ich bin mir sicher, dass Harriet einen Platz für Sie hat, bis Sie entschieden haben, wie es weitergehen soll.“
Wegen der tränenverschleierten Augen konnte Grace kaum etwas sehen, sie blinzelte nur. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten, ohne dass sie Pastor Burkes Worte wahrnahm.
Er musste ihr Schweigen als Zustimmung verstanden haben, denn er nickte und ging zum Telefon. „In Ordnung. Ich werde Harriet anrufen und ihr Bescheid geben, dass wir gleich kommen.“
Grace nippte am Wasser und rang um Fassung. Mitten in diesem Moment der Trauer und Überforderung wurde eine Frage in ihr laut: Warum hatte Gott sie den ganzen Weg nach Kanada geführt, nur damit sie erfuhr, dass ihre Schwester nicht mehr lebte? Dass der kleine Christian seine Mutter verloren hatte?
Nur langsam kam Grace gedanklich wieder in die Gegenwart zurück und bemerkte, wie fest sich ihre Finger um das Glas klammerten.
„Was ist mit dem Baby? Es ist nicht in ein Kinderheim gekommen, oder?“, fragte sie. Unmöglich konnte sie zulassen, dass ihr Neffe an solch einem Ort groß würde. Er gehörte zur Familie – oder zu dem, was davon noch übrig war.
Pastor Burke hielt inne, den Telefonhörer in der Hand. „Machen Sie sich keine Sorgen. Christian geht es gut“, versicherte er ihr, aber sein schuldvoller Gesichtsausdruck überzeugte Grace nicht.
„Wer kümmert sich um ihn? Jemand aus der Kirche?“ Mrs Gardiner konnte es nicht sein, wenn sie nach Vermont gezogen war. Graces Hände zitterten so sehr, dass sie etwas Wasser verschüttete, als sie das Glas auf dem Schreibtisch abstellte. „Sagen Sie es mir. Dann kann ich ihn gleich abholen gehen.“
Grace wusste zwar nicht, wie man ein Kind versorgte, aber das würde sie noch schnell genug lernen. Auf jeden Fall wäre Christian bei ihr sicher. Und bei seiner Familie.
Mit einem entschuldigenden Schulterzucken legte der Pfarrer den Hörer zurück. „Wenn ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden einen Angehörigen gefunden hätte, der sich um Christian kümmert, hätte die Krankenhausleitung das Jugendamt verständigen müssen. Und da Sie und Ihre Mutter so weit weg waren, hatte ich keine Wahl.“
Ein schreckliches Gefühl kam in Grace auf und ihr Magen zog sich zusammen. Bitte nicht die gefürchteten Schwiegereltern von Rose! Diejenigen, die ihren eigenen Sohn dafür enterbt hatten, dass er sich für sie entschieden hatte. Diejenigen, vor denen Rose das Kind unbedingt hatte verstecken wollen, nachdem ihr Mann gestorben war.
Sie straffte den Rücken und forderte mit fester Stimme: „Sagen Sie mir, wo er ist.“
„Ich habe das Einzige getan, was ich tun konnte. Ich habe seine Großeltern informiert.“ Ein bedauernder Blick legte sich auf sein Gesicht. „Christian lebt nun bei den Eastons.“
Kapitel 2
Als Andrew Easton das Kinderzimmer im zweiten Stock betrat, musste er sich ein Grinsen verkneifen: Seine sonst eher zurückhaltende Schwester lehnte über der Wiege und zog aberwitzige Grimassen, um den kleinen Neffen zum Lachen zu bringen.
„Pass bloß auf, Ginny. Nicht dass dein Gesicht dabei einfriert!“, warnte Andrew sie, als er lachend ins Zimmer kam.
Abrupt hob Virginia den Kopf und zwei leuchtend rote Wangen zierten ihr Gesicht. „Wie lange stehst du da schon?“
„Lange genug, um dich schielen gesehen zu haben.“
„Hmm…“, rümpfte sie die Nase und eine dunkle Haarlocke fiel ihr ins Gesicht. „Christian gefällt es jedenfalls. Mit strahlenden Augen hat er mich angelächelt. Nicht wahr, mein Süßer?“, sagte Virginia und nahm den Kleinen aus der Wiege. Als sie ihm ein Küsschen auf die Wange geben wollte, packte er kräftig nach ihrer Nase.
„Aua! Dafür, dass du noch so klein bist, hast du schon ganz schön viel Kraft“, beschwerte sie sich und nahm ihn auf den anderen Arm. Dann wandte sie sich Andrew zu. „Und was führt dich hierher, Drew, mitten am Tag? Solltest du nicht auf der Arbeit sein?“
„Heute arbeite ich von zu Hause aus und deshalb wollte ich mal eben nach unserem Neffen schauen“, antwortete er und kam zum Kinderbett. „Meinst du, er hat sich schon an sein neues Zuhause gewöhnt?“, fragte er. Seit drei Wochen lebte Christian nun bei ihnen. Andrew konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für ein Kind sein musste, noch als Baby zum Waisen geworden zu sein.
Franks Sohn hatte ein glückliches und sorgloses Leben verdient. Und als sein neuer Vormund fühlte Andrew sich dazu verpflichtet, ihm dieses zu bereiten.
Virginia gab ihm das Baby und öffnete Vorhang und Fenster. „Ja, ich glaube, Christian ist dabei, sich an uns zu gewöhnen. Nachts wacht der Arme aber immer noch weinend auf. Vermutlich schreit er nach seiner Mama“, mutmaßte sie und streichelte ihm über den Kopf. „Ich wünschte, Frank hätte ihn wenigstens einmal sehen können.“
„Ich auch. Er wäre so stolz auf ihn“, erwiderte Andrew traurig. Der Tod ihres Bruders machte ihnen allen zu schaffen.
Virginia seufzte. „Wäre seine Frau nach seinem Tod doch bloß zu uns gekommen.