Schwarzer Nebel. Günther R. Leopold
Günther R. Leopold
GÜNTHER R. LEOPOLD
SCHWARZER NEBEL
EIN PHOENIX KRIMI
SIGNUM
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Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker, OFFBEAT
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Heimstetten
Gesetzt aus der 11/13,1 pt Minion Pro
ISBN 978-3-99050-014-9
eISBN 978-3-903083-01-1
1.
Obwohl Mr. John Smith mit seiner Knickerbocker-Hose und dem großkarierten Sporthemd durchaus adrett aussah, hätte man in ihm schwerlich einen Millionär vermutet – noch dazu einen Multimillionär! Und doch gehörte der etwas knöchern wirkende Engländer zu jenen Kreisen, die es sich aufgrund ihres Bankkontos leisten können, ihre Zeit auf luxuriösen Segeljachten oder exklusiven Partys zu verbringen. Das Seltsame aber war, dass John Smith davon nichts wusste!
Er stand am Ufer des Sees und starrte nachdenklich auf die leicht gekräuselten Wellen, als müsste er noch heute das Geheimnis der dunkelgrünen Tiefe enträtseln. Seit er zum ersten Mal den See entdeckt hatte, zog ihn die eigenartige, fast melancholische Färbung des Wassers in ihren Bann. Aber so sehr er sich auch bemühte, seine forschenden Blicke konnten die grünen Schleier nicht durchdringen. Er trieb dieses Spiel einige Male am Tage, wusste von vornherein, dass es zu keinem Ergebnis führte und konnte es doch nicht lassen: Vielleicht weil es ihn an sein Spiel mit der Vergangenheit erinnerte, das ebenso fruchtlos verlief und das er ebenso immer aufs Neue versuchte. Denn obwohl man John Smith für einen Mann Ende fünfzig halten konnte, war er erst siebzehn Jahre alt.
Siebzehn Jahre war es nämlich her, dass der heutige John Smith auf einem schmutzigen Frachter zwischen Madagaskar und Ceylon – dem heutigen Sri Lanka – das Licht seiner neuen Welt erblickt hatte. Er war damals – darin bestand das Rätsel seines Lebens – ein Mann Anfang vierzig. Ein blinder Passagier, der sich nicht etwa an nichts erinnern wollte – der sich an nichts erinnern konnte! Ein Mann ohne Papiere – ein Mann ohne Vergangenheit. Er sprach Englisch, ein gepflegtes Englisch, wie man es an den Universitäten von Oxford und Cambridge hört, doch mit leicht irischem Akzent; die einzige Tatsache, die wenigstens gewisse Rückschlüsse auf sein früheres Leben zuließ. Aber wie er auf das Schiff gekommen war, woher er stammte, welchen Beruf er ausgeübt hatte, das alles war in dunkle Fetzen schwarzen Nebels getaucht.
»Schwarzer Nebel« – woher nur kannte er dieses Wort, diesen ganz besonderen Ausdruck? Das war keine bloße Umschreibung seines Gedächtnisverlustes. Dahinter steckte mehr! Das war ein Begriff seiner verlorenen Vergangenheit, eine Spur zurück ins Gestern, der er immer wieder nachzugehen versuchte, die sich aber immer wieder verlief und ihn mit einem Gefühl ungelöster Spannung zurückließ.
Man hatte ihn am Äquator mit Meerwasser getauft und ihm den gebräuchlichsten aller Namen gegeben: John Smith. Ein ausgleichendes Schicksal hatte ihn im Hafen von Colombo das Kind eines amerikanischen Ölmillionärs retten lassen: Eine klaffende, von scharfen Haifischzähnen stammende Schenkelwunde und ein nicht unbeträchtliches Legat, das ihn frei und unabhängig machte, waren die Folge gewesen. John Smith musste zugeben, dass sich das Schicksal für seine verlorene Vergangenheit erkenntlich gezeigt hatte. Und wusste er überhaupt, ob es sich lohnte, dem Phantom eines anderen Namens, eines anderen Lebens, nachzujagen? Das er es doch tat, war jener gleichen Hartnäckigkeit zuzuschreiben, mit der er im Augenblick die grüne, lockende Tiefe des Sees zu durchdringen suchte. Als er es nach weiteren zehn Minuten mit einer Art von Bedauern aufgab, verspürte er dasselbe Gefühl ungelöster Spannung, das ihm von seinem Stöbern aus der Vergangenheit her so vertraut war. Mit einem Laut des Unwillens schüttelte er sich, als könne er wie ein nasser Hund die lästigen Gedanken gleich Tropfen abschütteln. Dann zündete er sich eine Pfeife an, deren blaue Rauchringe die Schwarzen Nebel mit sich nahmen.
Als John Smith zu dem intimen, idyllischen, im Wald gelegenen Campingplatz zurückkehrte, erinnerte er sich, dass verschiedene seiner Vorräte bedenklich zur Neige gingen. Er hatte schon gestern einiges nachzukaufen beabsichtigt und es auf heute verschoben. Mit einem bedauernden Blick auf die mächtige Seemauer, eine Felswand, die sich jenseits des Waldes aufbaute und den See in seiner ganzen Ostlänge einschloss, holte er seinen abgeschabten Rucksack aus dem Zelt.
John Smith hielt nicht viel von »Reputation« – oder wie immer man den Zug zum Angeben umschreiben mochte. Er hätte sich dank seiner gesicherten Vermögensverhältnisse ein weitaus bequemeres, eindrucksvolleres Zelt leisten können. Aber er liebte das kleine, unscheinbare graue Etwas, das sich neben den prunkvollen Zeltpalästen der anderen wie ein armseliges Pförtnerhäuschen ausnahm. Irgendwie hegte er eine unbewusste Ahnung, dass er schon früher einmal viele Tage seines Lebens in einem ebenso grauen, unscheinbaren Etwas verbracht haben musste. Darauf führte er auch seine Vorliebe fürs Campen zurück und es erklärte die Tatsache, dass er im Augenblick wie ein motorisierter Zigeuner mit seinem kleinen Austin durch halb Europa zog.
Er war von Griechenland über Serbien und Kroatien nach Österreich gekommen und wollte von Graz aus über Salzburg nach München weiter. Als er aber von der Höhe der Prebichler Passstraße aus zum ersten Mal auf die im Tal gelegene Bergbaustadt Eisenerz blickte, glaubte John Smith einige Augenblicke lang, eine unsichtbare Hand könnte die Schwarzen Nebel seiner Vergangenheit für Sekunden zerteilen. Der rotbraune, in Terrassen abgestufte Erzberg, übrigens ein Gelände für weltbekannte Motorrad-Trials, erweckte mit seinen Gleisanlagen und Geröllhalden in ihm das Gefühl, dass er das alles – oder doch etwas ganz Ähnliches – schon irgendwo gesehen haben musste; mehr noch, dass es einen bedeutenden Teil seines früheren Lebens ausgemacht hatte.
Das – und nicht die romantische Schönheit des nahegelegenen Leopoldsteinersees – war der wahre Grund, warum John Smith seit zehn Tagen seine Reise unterbrochen hatte. Gleich einem Forscher fühlte der Mann ohne Vergangenheit, dass er ganz dicht vor einer Entdeckung stand, die seinem Leben eine entscheidende Wendung geben würde. Er versäumte es nicht, mehrmals am Tag nach dem kleinen Industrieort hinüberzufahren und auf dessen rotbraunes Wahrzeichen zu starren. »Du brauchst nur in den Schwarzen Nebel hineinzugreifen!« Immer wieder suggerierte sich John Smith diesen Befehl. Aber es blieb bei einem blinden Tasten, einem suchenden Tappen, das nichts Greifbares zu Tage förderte. Das Gesicht einer Frau tauchte wieder für Sekunden auf, die John Smith vor zwei Monaten in London durch Zufall gesehen hatte. Er konnte es sich nicht erklären, in welchem Zusammenhang es mit Eisenerz, einem österreichischen Bergbauort, stehen sollte? Und doch kehrte dieses Antlitz mit der hartnäckigen Beständigkeit eines Albtraumes wieder, gerade jetzt, da der rotbraune Berg mit seinen von Menschenhand geschlagenen Wunden ihn in diese eigenartige Spannung versetzt hatte. Ein Frauengesicht – ein Bergbaubetrieb – »Schwarzer Nebel«! – John Smith wusste mit diesen Begriffen nichts Rechtes anzufangen. Aber auch die scheinbar zusammenhanglosen Stücke eines Puzzlespieles fügen sich ganz zwanglos ineinander, wenn man nur den richtigen Ausgangspunkt dafür findet.
Unwillig, wie ein in die Seite getretenes Tier, sprang der verstaubte Austin unter erheblichem Ächzen an. Ganz mechanisch hatte John Smith den Rucksack auf den Hintersitzen verstaut, während seine Gedanken in fremden Fernen weilten. Erst als sich der Wagen bereits mühsam in Bewegung gesetzt hatte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er ja vorgehabt hatte, zu Fuß zu gehen. Er warf sich selbst einen wenig schmeichelhaften Ausdruck an den Kopf, brachte den Austin wieder auf seinen angestammten Parkplatz zurück und schlug kurz darauf den durch dichten Fichtenwald führenden Höhenweg ein.
Die Sonne hatte einen flimmernden Dunstmantel über die kleine Stadt gebreitet. Mit trägen Flügelschlägen kreisten einige Raubvögel über den rötlichen Geröllhalden.