Schwarzer Nebel. Günther R. Leopold
Waldrand stehen geblieben und saugte das bereits vertraut gewordene Bild mit dem gleichen Gefühl quälender Unruhe ein, das ihn bereits beim ersten Mal befallen hatte. Was war der Grund, dass ihn der Anblick eines aufgelassenen Bergbaubetriebes in solch einen Zustand fieberhafter Erwartung stürzen konnte?
Müde setzte der Engländer seinen Weg fort. Der einstündige Marsch hatte ihn weniger erschöpft als das augenblickliche Grübeln. Noch immer wollte sich der Schwarze Nebel nicht lichten.
Nachdem sich John Smith mit den für ihn unentbehrlichen Rauchwaren versorgt hatte, betrat er ein Molkereigeschäft, das ihn mit einer Auslage nett arrangierter Käsesorten zum Eintreten verlockt hatte. Der Laden war ziemlich voll und John Smith, wie jeder Engländer ein Meister in der Kunst des Anstellens, ließ seinen Blick gelangweilt über die Regale mit Milch, Eier, Butter und Margarine gleiten. Er schien nicht recht bei der Sache zu sein, sonst hätte er es bestimmt gemerkt, dass sich eine erst nach ihm gekommene Frau rücksichtslos vordrängte. Wieder hatte sich der rotbraune Berg zwischen die weißen Milchflaschen und die bunten Käseschachteln geschoben. Und in diesem Augenblick geschah es: Die eben erst eingetretene Frau hatte sich inzwischen weiter nach vorne gedrängt. »Ich bekomme eine Senna!« forderte sie mit harter, energischer Stimme.
»Bitte sehr, eine Senna!« Der Verkäufer schien ein serviles Echo. Es war das Letzte, was John Smith hörte. Es war, als ob jemand in seinem Inneren einen weithin hallenden Gong angeschlagen hätte. Die Schallwellen des Gonges schienen sich immer weiter und weiter fortzupflanzen und in John Smith eine ganze Kettenreaktion hervorzurufen: Senna! … Senna! … Senna! … Senna! Gleichzeitig hatte sich ein irrsinnig gewordener Filmstreifen übereinanderstürzender Bilder eingeschaltet: ein weißgetünchtes Hotel in fiebernder Hölle – Whiskydunst und qualmender Rauch und dazwischen groß aufgerissene, gierige Augen, die sich in ihn bohrten, als wären es giftige Dolchspitzen – ein ins Unendliche verzerrter Arzt, der nur aus einem weißen Kittel zu bestehen schien und mit einer überdimensionalen Injektionsspritze auf ihn zukam! – Und dann wieder das Gesicht jener Frau aus London, die sich mit mitleidigem Lächeln und einer kühlen Hand über ihn beugte und …
In diesem Augenblick versank John Smith in dem sich immer stärker drehenden Kreisel hektischer Erinnerungen. Als er wieder zu sich kam, umgafften ihn einige Köpfe mit dem Ausdruck freudiger Sensationsgier, während man eine kalte Kompresse um seinen Kopf schlang. Das nasse Tuch erinnerte John Smith wieder an die kühle Hand aus seiner Bilderflucht. Als er sich langsam, noch leicht benommen, aufrichtete, war aus John Smith James Richard Haugerty geworden. Und dieser James Richard Haugerty wusste endlich, warum ihm der Berg, das Gesicht der Frau und das Wort »Senna« so sehr beunruhigt hatten.
John Smith – oder besser gesagt James Haugerty – hätte später nicht mehr sagen können, wie er wieder zu seinem Zelt zurückgekommen war. Der Abend des gleichen Tages sah ihn ungewöhnlich lange vor seiner Feuerstelle sitzen. Seine Pfeife, an der er ab und zu rein mechanisch sog, war längst ausgegangen. Zwischen seinen Fingern drehte er einen Becher jener Margarine, deren Name James Haugerty einen solchen Schock versetzt hatte. »Senna« entzifferte er und »Delikatess-Margarine« und »Frischhaltepackung« und »tischfertig« und etwas, das der Name der Erzeugerfirma sein musste. Er hatte sich ein Röllchen der gelblichweißen Masse aus dem Becher geschält und es auf eine dicke Schnitte schwarzen Landbrotes gestrichen. Es schmeckte köstlich und war von echter Teebutter kaum zu unterscheiden. Aber James Haugerty hätte in diesem Augenblick auch eine mindere Sorte mit dem gleichen Entzücken genossen. »Welch ein Zufall!«, überlegte er. »Zuerst der Berg mit denselben Anlagen und Maschinen, die mir ein halbes Leben lang so vertraut gewesen waren und nun noch das gleiche Wort!«
Am nächsten Morgen kroch ein kleiner, verstaubter Austin mühsam dieselbe Straße zurück, die er vor elf Tagen gekommen war. Sechs Stunden später bestieg James Haugerty mit einem Pass, der noch immer auf John Smith lautete, die Kursmaschine Graz – Wien mit Anschluss nach London. In seinem Gepäck befanden sich sechs Senna-Becher, die Haugerty in Heathrow ordnungsgemäß verzollte. Der Beamte wunderte sich noch, wozu ein Reisender ausgerechnet sechs Margarinebecher der gleichen Sorte benötigte. Sie sollten im Laufe der nächsten Wochen im Leben von sechs »ehrenwerten« Männern und Frauen eine entscheidende, unheilvolle Bedeutung erlangen.
2.
Inspektor Millers vom Greenwich Kommissariat war ausnahmsweise strahlender Laune. Das kam selten vor, da er für gewöhnlich eine eindrucksvolle Miene berechtigter Verbitterung zur Schau trug. Gestern Abend jedoch schien ihm ein guter Fang geglückt: Man hatte Diamanten-Sandy verhaftet, als er mit der gesamten Beute aus seinem letzten großen Einbruch in einen der Schuppen der Harvey-Docks untertauchen wollte. Die Verhaftung war ein Musterbeispiel dafür, dass ein Beamter der Londoner Polizei »jederzeit und überall« – eine Lieblingsphrase des Inspektors – im Dienst zu sein hatte. Nicht das Millers bei Sandys Festnahme seine Hand auch tatsächlich im Spiel gehabt hätte. Der Inspektor vertrat jedoch die Ansicht, und er wusste sich damit einig mit verschiedenen Regiments- und Divisionskommandeuren des letzten Krieges, dass die Erfolge der Untergebenen hauptsächlich als Verdienst der Vorgesetzten zu werten waren.
»Ich habe so ein Gefühl, als ob unser Gast heute singen würde!« Sergeant Watts kam eben von der Zelle des Einbrechers und trug eine ausgesprochen hoffnungsvolle Miene zur Schau. »Die Schicksalsschläge der letzten Zeit müssen Sandy demoralisiert haben!«
Der Inspektor nickte mit einem Lächeln, das Watts die Überzeugung brachte, dass Millers auch Sandys private Schicksalsschläge auf sein Konto gebucht wissen wollte. Dabei hatte Sandy die letzten beiden Male bloß Pech gehabt. Sogar in Scotland Yard war man dieser Ansicht. Aber die Branche fragte nicht nach Pech oder Schuld. Erfolg oder Misserfolg – allein darauf kam es an; und Diamanten-Sandy schien in letzter Zeit etwas aus dem Rennen gekommen!
»Wirklich, er macht einen beinahe mitleiderregenden Eindruck«, setzte der Sergeant seinen Lagebericht fort. »Der Melancholiker wird mit ihm leichtes Spiel haben!«
»Der Melancholiker?« Millers’ strahlende Miene erlosch, als ob man einem zwölfbirnigen Luster den Strom abgedreht hätte. »Zum Teufel noch mal, Watts, wollen Sie mir nicht erklären, was der ver…, was Chefinspektor Hutchingson von Scotland Yard mit unserem Vogel zu tun hat?«
»Ja … hm … natürlich«, der Sergeant druckste herum, als ob er an einem zu großen Bissen zu kauen hätte. Dann holte er tief Luft und nahm beinahe so etwas wie Haltung an. »Sie waren doch vorhin auf einen Sprung … draußen.« Watts hütete sich wohlweislich, die Vorliebe des Inspektors für einen oftmaligen Schluck im gegenüberliegenden Pub näher zu umschreiben. »In der Zwischenzeit kam ein Anruf vom Yard durch. Der traurige Sam, ich meine, Chefinspektor Hutchingson, war persönlich am Apparat. Er forderte ausdrücklich, dass wir mit der Vernehmung bis zu seiner Ankunft warten sollten!«
»Wie, er bemüht sich persönlich?« Der Inspektor schien wenig erfreut. »Es hieß doch, nach Wachsgesichts Ende wäre Hutchingson in Pension gegangen?« »Nein, er hat sich nur eine längere Auszeit genommen.« Watts warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Er genießt im Yard wieder seine ›traurige‹ Berühmtheit. Und was uns betrifft, gegen Mittag wollte er vorbeischauen. Scheint ganz so, als ob hinter der Sache mehr stecken würde!«
»Für die da oben wieder ein Grund, um sich wichtig zu machen!« Inspektor Millers hegte wenig Sympathien für den Yard im Allgemeinen und Samuel Hutchingson im Besonderen. Er hatte zusammen mit dem Chefinspektor die Bänke der Polizeischule in Hendon gedrückt und konnte es nicht verwinden, dass Hutchingson inzwischen einer der Oberen von Scotland Yard geworden war, während er sich mit dem Kleinkram von Greenwich herumschlagen musste. Außerdem konnte er Hutchingsons melancholische Posen nicht ausstehen, die dem Chefinspektor zu seiner ›traurigen‹ Berühmtheit verholfen hatten.
In diesem Augenblick betrat ein Mann das Kommissariat, dem man allein schon aufgrund seiner Tasche den Arzt anmerken konnte. Er stellte sich als Dr. Laxbill vor und verlangte, sofort zu dem verhafteten Einbrecher geführt zu werden. Inspektor Millers schien einer Explosion nahe.
»Und sonst wollen Sie nichts?«, schnaubte er. »Vielleicht sollen wir ihn noch auf ihr ehrliches Gesicht hin entlassen?«
Der Doktor hatte aus seiner Tasche eine Injektionsspritze