Schwarzer Nebel. Günther R. Leopold
Stimme. »Hutchingson wollte doch den Gefangenen einem Verhör unterziehen? Hm, es wäre nicht das erste Mal, dass ich dem Chefinspektor mit einem kleinen Injektiönchen geholfen hätte!« Dr. Laxbill deutete auf seine Spritze und entnahm hierauf einer Schachtel eine mit hellgelber Flüssigkeit gefüllte Phiole. »Haben Sie noch nichts von Wahrheitsseren gehört? Aber vielleicht wird Sie dieses Papier hier mehr überzeugen!«
Der Inspektor war wie elektrisiert. »Wahrheitsserum!«, keuchte er. »Also das sind die Methoden, mit denen der große Hutchingson seine Erfolge zustande bringt! Wahrheitsserum! Da kann natürlich unsereins nicht Schritt halten! Wirklich, es ist traurig!« Zweifellos hätte sich der Melancholiker gefreut, wenn er gewusst hätte, dass Millers eben seinen Lieblingsausdruck verwendete.
»Das können Sie dann mit dem Chefinspektor ausmachen!« Dr. Laxbill hatte seine Vorbereitungen vollendet. »Also, wo ist der Gefangene?«
»Ich wasche meine Hände in Unschuld!« Der Inspektor unterstrich seine Worte mit einer dementsprechenden Handbewegung. »Sergeant Watts, zeigen Sie dem Doktor den Weg! Es geschieht auf alleinige Verantwortung des Chefinspektors!« Aber das hörte der Doktor bereits nicht mehr. Es hätte ihn auch wenig gestört.
Diamanten-Sandy gehörte zu jenen Leuten, die von Natur aus eine unüberwindbare Abneigung gegen alles haben, was mit Medizin und Doktoren zusammenhängt. Er machte auch hier im Kommissariat Greenwich keine Ausnahme. Doch Dr. Laxbill schien an derartiges einigermaßen gewöhnt zu sein. Gleichmütig füllte er die Injektionsspritze mit der hellgelben Flüssigkeit, während der Einbrecher etwas von »Menschenrechten«, »Verfassung« und »persönlicher Freiheit« zeterte.
Umso erstaunter war Sergeant Watts, als Diamanten-Sandy plötzlich mit lammfrommer Miene selbst den Ärmel emporstreifte und dem Doktor seinen tätowierten Arm hinstreckte. Dabei hatte Laxbill kein Wort mit dem Häftling gewechselt. Was Sergeant Watts aber von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte, war der Blick des Einbrechers, der wie gebannt der rechten Hand des schmächtigen Mediziners folgte: Ein schmaler Ring, über und über mit kleinen Brillianten besetzt, funkelte und glitzerte, sooft der Doktor eine Bewegung machte. Laxbill hatte das Augenspiel seines Gegenübers bemerkt. Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen. Mit einem beruhigenden Kopfnicken meinte er leichthin: »Keine Angst, das hilft bestimmt!«
Noch nie hatte sich Diamanten-Sandy so bereitwillig in die Hand eines Mediziners begeben. Hätte er geahnt, was die gelblich-weiße Flüssigkeit wirklich bedeutete, er hätte sich lieber den Arm abhacken lassen, als wie eben jetzt den Einstich der Nadel mit einem zustimmenden Lächeln zu quittieren!
Genau fünf Minuten vor halb zwölf hielt ein schwarzer Wagen vor dem Kommissariat. Umständlich, beinahe unbeholfen, entstieg ihm eine Gestalt, deren bemerkenswerteste Eigenschaft es zu sein schien, in einem viel zu weiten Anzug zu versinken. Diese schlottrige Erscheinung war Chefinspektor Hutchingson, den sie im Yard »den Melancholiker« oder den »traurigen Sam« nannten, weil es zu seinen liebevoll gepflegten Gewohnheiten gehörte, die Welt aus einer pessimistischen Perspektive zu betrachten. Er schien genau das Gegenteil dessen, was man sich unter einem tüchtigen Detektiv oder erfolgreichen Kriminalisten vorstellte. »Diese Tatsache ist natürlich im höchsten Grade betrüblich«, pflegte der Melancholiker seinen eigenen Eindruck zu kommentieren; wer ihn aber besser kannte, wusste, dass er sich darüber freute.
Inspektor Millers, der in Gegenwart des Chefinspektors immer mit einem unbewussten Minderwertigkeitskomplex zu kämpfen hatte, empfing ihn mit hohnvollem Grinsen. Dr. Laxbill hatte ihn einen Blick hinter die Methoden des Melancholikers werfen lassen, was ihm ein neues berauschendes Gefühl der Überlegenheit gab. »Es ist traurig«, begann Millers mit deutlichem Spott und fühlte mit Befriedigung, dass er den Chefinspektor durch die Vorwegnahme seiner eigenen Redensart sichtlich ärgerte. »Ja, wirklich, es ist traurig, dass sich ein so großer Mann wie der berühmte Samuel Hutchingson eigens nach Greenwich bemühen muss, um einen kleinen Fisch wie Diamanten-Sandy zum Singen zu bringen. Aber du wirst zufrieden sein: Wir haben Sandy gedopt und gepfählt und vor allem mit deinem famosen Wahrheitsserum vollgepumpt, dass er singen wird, singen, so weit eben ein kleiner Fisch singen kann!«
»Wie schwatzhaft doch gewisse Leute im Alter werden können! Man könnte direkt melancholisch werden, wenn man bedenkt, wie stumm du in den Tagen unserer guten alten Polizeischule warst.« An der sauren Miene seines Gegenübers konnte Hutchingson ablesen, dass jetzt die Partie wieder pari stand. »Aber willst du mir nicht erklären, was der Unsinn mit dem Dopen und dem famosen Wahrheitsserum zu bedeuten hat?«
»Ah, hätte dein tüchtiger Dr. Laxbill etwa nicht aus der Schule plaudern sollen?« Inspektor Millers Augen funkelten boshaft. »Keine Angst, Sam, wir verraten nichts der Presse!«
»Dr. Laxbill? Sergeant, was hat das alles zu bedeuten?« Mit einem Schlag war alles Posenhafte von Hutchingson abgefallen. Der Inspektor konstatierte verbittert, dass sich Hutchingson um Aufklärung nicht an ihn, sondern an seinen Untergebenen gewandt hatte. In möglichst knappen Worten informierte Watts den Yard-Beamten über das Vorgefallene.
»Du dreimal verdammter Narr!«, fauchte der Chefinspektor am Ende des Berichts seinen früheren Kollegen an. Sergeant Watts konnte sich nicht genug wundern, woher der schlottrige Hutchingson auf einmal so viel Engergie und Kraft herzaubern konnte. Weitaus mehr aber wunderte sich Watts über seinen unmittelbaren Vorgesetzen, da Millers in den folgenden Sekunden mehr und mehr in sich zusammenschrumpfte, als hätte man in einen zu prall gefüllten Luftballon ein Loch gestochen. »Natürlich«, der Chefinspektor schritt erregt hin und her, »kaum glaubt mein guter Freund Millers, hinter meine Schliche und Tricks gekommen zu sein, verliert er seinen letzten Rest von Verstand und geht dem erstbesten Betrüger ins Garn. Wahrheitsserum! Dopen! Als ob ein Mann der alten Schule jemals auf solch neuzeitliche Dummheiten angewiesen wäre! Du kannst von Glück reden, wenn dich dieser Geniestreich nicht deinen Posten kostet und von noch größerem Glück wirst du reden können, wenn wir Diamanten-Sandy noch lebend in seiner Zelle antreffen!«
Aber Diamanten-Sandy lebte, wie sich die drei Polizeibeamten Sekunden später vergewissern konnten. Er starrte stumpf und teilnahmslos erst den Chefinspektor an und wandte sich hernach mit einem einfältigen Lächeln Millers zu: »Wer bin ich?«, fragte er und der gequälte Ton in seiner Stimme ließ Hutchingson aufhorchen.
Einen Augenblick schnappte der Inspektor hörbar nach Luft. »Glaube nur ja nicht, uns vorspielen zu können, dass du dein Gedächtnis verloren hast!«, fuhr Millers den Gefangenen an, und dieser wich ein paar Schritte verschüchtert zurück. Ohne lange zu zögern, trat Hutchingson dicht an ihn heran und zog sein rechtes Augenlid herunter.
»Er spielt es nicht!«, bemerkte er nach kurzer Musterung müde und winkte Millers’ Einwand entschieden ab. »Dieser Mann wird nichts mehr aussagen, was gewissen Leuten eventuell unbequem werden könnte. Diamanten-Sandy hat tatsächlich sein Gedächtnis verloren!«
Inspektor Millers wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne. »Das kann doch nicht möglich sein!«, stammelte er.
»Doch!«, entgegnete Hutchingson unwirklich ruhig. »Das ist nun bereits der dritte Fall von Gedächtnisverlust innerhalb kurzer Frist! Und jedesmal hatten die Betreffenden mit Diamanten zu tun!«
3.
James R. Haugerty hatte sein Leben entscheidend verändert. Rein äußerlich kam es darin zum Ausdruck, dass er sich einen Bart hatte wachsen lassen und eine dickumrandete Hornbrille trug. Befriedigt stellte er fest, jener John Smith, der ihn aus seinem Passfoto her so nichtssagend anlächelte, war tot!
Gleich nach seiner Ankunft in London hatte er sich zu der führenden Detektivagentur Springley & Barner begeben und sie mit Nachforschungen bezüglich einer jungen Dame beauftragt, die seiner Schätzung nach jetzt zwanzig Jahre alt sein musste. Als James Haugerty vor achtzehn Jahren nach Südafrika gegangen war, hatte er seine Tochter in der Obhut einer alten Tante zurückgelassen. Ann Haugerty musste damals zwei Jahre alt gewesen sein, eine Halbwaise, da ihre Mutter bei Anns Geburt gestorben war. So sehr sich Haugerty aber auch bemühte, er hatte sowohl von seinem Kind als auch von dem Haus, in dem er vor achtzehn Jahren gelebt hatte, keine Vorstellung mehr.
Verschiedene Abschnitte seines Lebens traten