Der erste Walzer. Dietmar Grieser
rel="nofollow" href="#ua36ccf4a-8b8d-569f-a4c2-cbf6bd11bebf">»Alles Walzer!«
Die Stadt der Novak, Sokol, Kratochwil
Vorwort
Es geistert durch alle Ortschroniken, durch alle Reiseführer, durch alle Fremdenverkehrsprospekte der USA: das Wörtchen first. Jedes Gemeinwesen zwischen Miami und Seattle, das auf sich hält, trachtet mit historischen Events zu prunken, die sich auf seinem Boden zugetragen haben: Die Eröffnung des ersten Sklavenmarktes, die Jungfernfahrt des ersten Raddampfers, die Grundsteinlegung des ersten Wolkenkratzers.
Im French Quarter von New Orleans kann der durstige Tourist in jenem Saloon einkehren, in dem der erste Cocktail gemixt worden ist; in Chicago erinnert eine Gedenktafel an die Würstchenbude, in der vor mehr als 150 Jahren der Hot Dog kreiert wurde; und in Philadelphia wartet auf den patriotisch gestimmten Besucher das Haus der Flickschneiderin Betsy Ross, die im Rufe steht, die erste US-Flagge genäht zu haben.
Je mehr Firsts eine Ortschaft vorzuweisen hat, desto höher ihr Ansehen. Das schlägt sich auch in der Sprache nieder: Anders als im Deutschen steht im Englischen das Wort first im Range eines Substantivs. Erstling wäre eine denkbare (aber unzulängliche) Übersetzung.
Die Sucht der Amerikaner, sich und ihr Land mit Firsts zu schmücken, erklärt sich aus ihrer vergleichsweise jungen Geschichte: Man möchte mit Old Europe, wo alles um so vieles früher angefangen hat, nach Kräften mithalten.
Österreich mit seiner überreichen Vergangenheit hat es da leichter (und schwerer zugleich). Leichter: Wie viele der großen Errungenschaften aus alter Zeit haben hierzulande ihren Ursprung!
Schwerer: Es sind ihrer so viele, daß sich jeder, der den Versuch unternimmt, dieses Kapitel der Kulturgeschichte aufzuarbeiten, auf eine winzig kleine, zwangsläufig subjektive Auswahl beschränken muß.
Mit einer solchen Auswahl wartet das hier vorliegende Buch auf, wobei das Altbekannte zugunsten des bisher Unerforschten ausgespart bleibt. Weder Ressels Schiffsschraube noch Maderspergers Nähmaschine, weder Kaplan-Turbine noch Mälzel-Metronom bilden das Thema, sondern Novitäten wie das erste österreichische Sparbuch und der erste österreichische Totoschein, Ereignisse wie der erste Papstbesuch auf österreichischem Boden, der erste Opernball und die Kür der (aus Wien stammenden) ersten »Miss Welt«, die Einführung des Muttertages und die Gründung der Salzburger Festspiele, die erste Erdölbohrung, das erste Fußballmatch und das erste Retortenbaby, Errungenschaften wie Nylonstrumpf und CARE-Paket, wie Wochenschau und Fernsehquiz. Und vieles vieles mehr.
Dietmar Grieser
Wien, im Juni 2007
Die schönste Frau der Welt
Zweimal hat Österreich die »Miss World« gestellt: 1969 mit der Steirerin Eva Rueber-Staier und 1987 mit der Wienerin Ulla Weigerstorfer. Daß es jedoch bereits 1929 einen Wettbewerb gegeben hat, aus dem eine Österreicherin als »schönste Frau der Welt« hervorgegangen ist, ist heute vergessen. Sie hieß Lisl Goldarbeiter, entstammte einem einfachen Wiener Bürgerhaus, war zum Zeitpunkt ihrer Kür neunzehn Jahre alt und hatte nur einen einzigen Makel: Die Ärmste lispelte.
Es ist das Jahr, in dem das Luftschiff »Graf Zeppelin« zum ersten Mal über Wien kreist; Marianne Hainisch, die Mutter des vormaligen Bundespräsidenten, gründet die »Österreichische Frauenpartei«, im Schönbrunner Schloßtheater wird das Max-Reinhardt-Seminar eröffnet, der spätere Wiener Bürgermeister Leopold Gratz und der Maler Arik Brauer erblicken das Licht der Welt. Unter den großen Toten des Jahres ragen der Dichter Hugo von Hofmannsthal und der Kinderarzt Clemens Pirquet hervor (auf den der Begriff »Allergie« zurückgeht).
Mitte Jänner 1929 erfährt die Öffentlichkeit zum ersten Mal von einer weltweit veranstalteten Schönheitskonkurrenz, für die im Vorjahr in Paris die ersten Vorbereitungen getroffen worden sind. Das multinational zusammengesetzte Komitee einigt sich auf folgende Vorgangsweise: Zunächst bestimmt jedes der Teilnehmerländer seine eigene Kandidatin, dann wird unter diesen die »Miss Europa« ausgewählt, und aus der in Amerika durchgeführten Endrunde geht schließlich die »Miss Universum« hervor. Die Organisation des Spektakels liegt in den Händen der Presse:
In England ist es das Boulevardblatt »Daily Mail«, in Frankreich die Pariser Tageszeitung »Le Journal«, in Österreich das »Neue Wiener Tagblatt« (zu dessen Mitarbeitern so klangvolle Namen wie Hermann Bahr, Franz Karl Ginzkey, Heinrich Kralik, Franz Theodor Csokor, Erwin Rainalter und Eduard Pötzl zählen).
Über die Startrunde zur Wahl der »Miss Austria« lesen wir auf der Titelseite des »Neuen Wiener Tagblatts«:
»Welchen Ansturm gab es da auf unsere Redaktion! Täglich brachte die Post ganze Stöße von Photographien: blonde und brünette Bewerberinnen, Madonnenzauber und rassige Pikanterie – jeder Typ von Frauenschönheit war vertreten, 1283 Konkurrentinnen insgesamt. Und aus dieser ungeheuren Zahl bestimmte eine Jury 43 Damen für die engere Wahl.«
Im Rahmen eines Fünf-Uhr-Tees im Hotel Imperial waltet die Jury, der unter anderem die Staatsopernsängerin Margit Schenker-Angerer, der Maler Carry Hauser und der französische Botschafter, Graf Clauzel, angehören, ihres Amtes und trifft in dreistündiger Beratung »mit größter Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit« ihre mit Spannung erwartete Entscheidung. Kommt es unter den Jurymitgliedern zu »Kontroversen«, so wird die betreffende Kandidatin ein weiteres Mal ins »Beratungszimmer« gebeten; schließlich steht – mit zehn von insgesamt dreizehn Stimmen – die Siegerin fest: Es ist die neunzehnjährige Tochter des Wiener Kaufmanns Karl Goldarbeiter, der in der Wipplingerstraße im I. Bezirk ein Geschäft für Ledergalanteriewaren betreibt. Auch Lisl, die die Handelsschule absolviert hat, hilft in der elterlichen Firma mit. Die Wohnung der dreiköpfigen Familie befindet sich in der Freilagergasse im Bezirk Leopoldstadt, nahe dem Praterstern.
Schon in den ersten Zeitungsberichten über die frischgebackene »Miss Austria« wird deren dezentes Auftreten lobend hervorgehoben: Lisl Goldarbeiter komme »ohne Puder, ohne Schminke, ohne Lippenstift« aus. Und erst recht sittsam geht’s beim Posieren vor den strengen Augen der Jury zu: Keine Spur von Fleischbeschau, »Pin up« ist noch ein Fremdwort. Man muß ihn zwei Mal lesen, den Bericht im »Neuen Wiener Tagblatt«, so antiquiert mutet er aus heutiger Sicht an:
»Das Bild eines italienischen Renaissancemeisters – so erschien uns das Antlitz Lisl Goldarbeiters. Von klassischer Schönheit ihre Gesichtszüge, blau die Augen, die ernst und klug zu blicken wissen, die Nase zart und gerade, halblang das schöne braune Haar.« Bescheiden, ja karg auch der »Lohn«, der einer »Miss Austria« des Jahres 1929 für ihren Triumph winkt: Maler bieten sich an, die Auserwählte zu porträtieren; der Bildhauer Anselm Zinsler (der später unter anderem den Auftrag erhalten wird, die Grabmalplastik für die Schauspielerin Adele Sandrock zu entwerfen) fertigt eine madonnenartige Büste der Siegerin an; die Schriftstellervereinigung Concordia drängt auf Mitwirkung bei einer ihrer kommenden Veranstaltungen.
Dafür hat Lisl Goldarbeiter allerdings keine Zeit: In Paris wartet bereits die nächste Runde auf sie – die Wahl zur »Miss Europa«. Hier schafft sie zwar nur den zweiten Platz, da jedoch die Siegerin, eine Mitbewerberin aus Budapest, noch vor dem US-Finale aussteigt, empfängt die nachrückende »Miss Austria« den Gratisfahrschein für den Transatlantikdampfer in die Neue Welt und darf sich – in Begleitung ihrer Mutter – in der texanischen Hafenstadt Galveston der dortigen Jury zur Wahl der »Miss Univers« stellen.
Am 12. Juni 1929 kann das »Neue Wiener Tagblatt« auf seiner Titelseite verkünden:
»Fräulein Lisl Goldarbeiter (Österreich) ist gestern abend im Internationalen Schönheitswettbewerb zur Miss Univers gekrönt worden. Von den sieben Richtern stimmten sechs für sie. Es waren elf Konkurrentinnen, darunter Miss England und Miss Amerika. Fräulein