Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


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6. September 1919

       »Der Kampf um jedes Haus, um jeden Wald und um jeden Weinberg«

       Die Nationalversammlung stimmt dem Friedensvertrag zu

       12. September 1919

       »Das Utopia des Poeten«

       Gabriele d’Annunzio besetzt mit Freischärlern Fiume

       1. Oktober 1919

       »Wiens hat sich ja in den letzten Jahren eine Tanzmanie bemächtigt«

       Rittmeister a. D. Elmayer eröffnet ein privates Tanzinstitut

       10. Oktober 1919

       »Neue Offenbarungen aus nervenzerquälenden Tonorgien«

       Die Uraufführung der Frau ohne Schatten ist das kulturelle Ereignis der Republik

       21. Oktober 1919

       »Wir erklären schmerzbewegten Herzens«

       Die Konstituierende Nationalversammlung streicht das Wort »Deutsch«

       12. November 1919

       »Nur die Kraft des Proletariats kann die Republik verteidigen«

       Streit am ersten Jahrestag der Republikgründung

       23. Dezember 1919

       »Ganz unheimliche Schneemassen«

       Im fernen Tiroler Patznauntal werden Berghütten geplündert

       31. Dezember 1919

       »Ich war froh, daß 1919 zu Ende ging«

       Dr. Sigmund Freud wird ordentlicher Universitätsprofessor

       Ein Jahr im Zeitraffer

       Literaturverzeichnis

       Bildnachweis

       Namenregister

      Vorwort

      Am Anfang steht eine Korrektur. Auf den im Wiener Staatsarchiv in einem eher schlichten Karton verwahrten Druckfahnen des »Gesetzes über die Staatsform vom 21. Oktober 1919« sind die ersten Worte des ersten Artikels durchgestrichen: »Die deutschen Alpenlande sind eine demokratische Republik.«

      Im Herbst 1919 – auf den Tag genau ein Jahr nach der ersten Sitzung der provisorischen Nationalversammlung, die sich im niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse versammelt hat – ist die Staatswerdung Österreichs mit der Findung eines Namens vorerst einmal abgeschlossen. Österreich heißt Österreich, weil es die alliierten Siegermächte so erzwungen haben. Und Österreich ist als Republik ein selbstständiger Staat, weil die Sieger einen Anschluss der deutschen Bevölkerung Österreichs ans Deutsche Reich verboten haben. Die Neue Zeit beginnt 1919 unter schlechten Vorzeichen.

      Die Monate von November 1918 bis Oktober 1919 sind eine Zeit, in der die sechs Millionen »Deutschen« der untergegangenen Habsburgermonarchie auf jede Gewissheit verzichten müssen. Eine Zwischenzeit. Kein Krieg mehr, aber auch noch kein Frieden. Ein Staat schon, aber ohne Freiheit. Eine Notgemeinschaft, aber keine Nation. Ein Land ohne feste Grenzen. Das erste Nachkriegsjahr ist eine politisch und gesellschaftlich turbulente Epoche, in der in Österreich, so wie in vielen anderen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die politischen Weichen neu gestellt werden, der Boden schwankt und tiefe Brüche sichtbar werden. Jahrhundertealte Gewissheiten verschwinden, Zukunftsängste überlagern das anfangs so freudig begrüßte Ende des alten Regimes.

      Die Gründung der »Republik Deutschösterreich« war kein revolutionärer nationaler Schöpfungsakt, sondern das Ergebnis des militärischen Zusammenbruchs und des daraus erfolgenden inneren Zerfalls der Habsburgermonarchie. Oder war es umgekehrt? Führte das schleichende Zerbrechen des k. u. k. Gebildes in Nationalstaaten, die freilich längst noch keine Staaten waren, zur militärischen Niederlage? Eine Revolution war es nicht. Der Schweizer Gesandte in Wien, Carl Jacob Burckhardt, ist ein im doppelten Sinn neutraler Zeitzeuge: »Was geschah, ist kein eruptives Ereignis; es ist ein leises, mattes, halb widerstrebendes Abrutschen in einen, auf die Dauer wohl auch unhaltbaren Zustand, etwas Schleichendes, wobei das Unheimliche nicht gewaltmäßig in Erscheinung trat, sondern nur fahl im Hintergrund erschien.«

      Die Ausrufung der Republik am 12. November auf der Parlamentsrampe erfolgte nicht in einer Phase kollektiver Begeisterung. Die in den wenigen überlieferten Filmminuten eingefangene Stimmung wirkt nicht nur durch das regnerische Novemberwetter getrübt, die Befindlichkeiten der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten sind in dieser semirevolutionären Umbruchsphase keineswegs einheitlich. Zwischen dem Empfinden in Bregenz, Kufstein, Vöcklabruck oder Böheimkirchen und der Stimmung auf der Wiener Ringstraße liegen Welten. Es fehlte (und fehlt) bis heute ein alle Parteien- und Gesellschaftsschichten verbindendes Narrativ. Es gibt keines.

      Der Republikgründung in Wien ist ein Hochfest der österreichischen Sozialdemokratie. Vertreter der anderen zwei politischen »Lager«, der Christlichsozialen und der betont Deutschnationalen, stehen im Schatten. Dabei proklamiert der deutschnationale Parlamentspräsident Franz Dinghofer gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner am Nachmittag des 12. November die Republik. In der provisorischen Nationalversammlung, die aus den Abgeordneten des 1911 gewählten letzten Reichsrats besteht, die in deutschsprachigen Wahlkreisen gewählt worden sind, haben die bürgerlichen Deutschnationalen mit 111 von insgesamt 208 Abgeordneten noch eine absolute Mehrheit. Die Christlichsozialen sind die zweitstärkste Fraktion. Doch diese Mandatsstärken in der »provisorischen« Nationalversammlung spiegeln längst nicht mehr die wirklichen politischen Verhältnisse wider.


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