Ein Kind um jeden Preis?. Angelika Walser
mit dem sie gerne Kinder haben wollen. Mithilfe moderner Methoden der Empfängnisverhütung lässt sich Fruchtbarkeit auch lange Zeit gut kontrollieren, so dass das „Projekt Kind“ plan- und steuerbar erscheint. Leider stellt sich nach Absetzen der Verhütungsmaßnahmen oftmals heraus, dass es viel leichter war, eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern, als eine gewollte herbeizuführen.
Das relativ hohe Alter der Erstgebärenden ist aber nur ein Grund unter vielen anderen, der in manchen Abhandlungen leider dazu verwendet wird, Frauen die Schuld zuzuweisen – nach dem Motto: In früheren Zeiten ohne Emanzipation und Selbstverwirklichungsbestrebungen der Frauen war die Welt halt noch in Ordnung … Solchen Behauptungen ist entgegenzuhalten, dass die Wissenschaft heute viele andere gewichtige Gründe nennt, weshalb immer mehr Paare über Infertilität klagen: So wächst der seriös begründete Verdacht, dass sich Umweltgifte, insbesondere Pestizide, ungünstig auf das sensible Hormonsystem von Männern und Frauen auswirken. Dazu kommen Abgase, Schwermetalle und weitere Umweltgifte. Leider müssen Umweltmediziner feststellen, dass trotz der sich mehrenden wissenschaftlichen Hinweise auf den Zusammenhang von Schadstoffbelastung und Unfruchtbarkeit der politische Wille und die finanziellen Ressourcen fehlen, um in aufwändigen Studien diesen Zusammenhang wissenschaftlich zweifelsfrei belegen zu können. Die Ergebnisse dieser Studien wären möglicherweise unangenehm für Industrie, Wirtschaft und Politik gleichermaßen. So muss es fürs erste bei der Feststellung bleiben, dass die männliche Spermienqualität weltweit in den letzten Jahrzehnten stetig abnimmt, wobei hier nicht nur Umweltgifte eine Rolle spielen: Nikotin, Alkohol, Übergewicht und Stress sind ebenfalls Faktoren, die zu den andrologischen Ursachen von Infertilität gehören. Dazu kommen Entzündungen, Infektionen, Fehlbildungen und Verletzungen der Samenleiter und Hoden, die manchmal bereits in der Kindheit angelegt wurden und nie erkannt worden sind. Heute wird davon ausgegangen, dass die Ursachen für Infertilität in etwa zu gleichen Teilen bei Mann oder Frau bzw. bei beiden gemeinsam liegen, wobei es neben dem bereits genannten sozialen Grund – dem hohen Alter der Erstgebärenden – und den ökologischen Gründen meist handfeste medizinische Gründe gibt, weshalb sich der Kinderwunsch nicht erfüllen will: So rückt in letzter Zeit die zweithäufigste Krankheit bei Frauen im gebärfähigen Alter, die Endometriose, in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Endometriose ist eine gutartige chronische Krankheit, bei der sich Teile der Gebärmutterschleimhaut im Bauchraum ansiedeln und nicht nur extreme Menstruationsschmerzen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verursachen, sondern auch in vielen Fällen Kinderlosigkeit.3 Dazu kommt eine ganze Palette von Ursachen bei der Frau, die schon länger bekannt ist, wie Schädigungen der Eierstöcke und Eileiter, Infektionen und andere Erkrankungen, Chromosomenanomalien u. v. a. Manchmal werden auch psychische Ursachen genannt, doch sollte man mit Diagnosen in diesem Bereich besonders vorsichtig sein, weil sie gerne von selbst ernannten Hobbypsychologen und -psychologinnen beansprucht werden, um kinderlosen Paaren Schuldgefühle zu verursachen und ihr ohnehin schon beeinträchtigtes Selbstwertgefühl erheblich herabzusetzen. Auch von Selbstdiagnosen im psychischen Bereich ist – genau wie bei jeder anderen Ursachenforschung – abzuraten! Zunächst einmal sollten bei der Suche nach der Ursache für einen unerfüllten Kinderwunsch die Fachleute der medizinischen Fachabteilungen aufgesucht werden. Durchaus häufig kann die Ursache jedoch nicht ermittelt werden, so dass rein medizinisch auch keine Maßnahmen eingeleitet werden können. Alternativtherapeutische Maßnahmen – angefangen von Homöopathie bis hin zu Bachblütentropfen – können dann dem Gefühl entgegenkommen, „etwas machen zu wollen“. Viele Paare entscheiden sich jedoch aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu unternehmen und „weil das Angebot ja existiert“, für die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Methoden.
Wieso eigentlich der Wunsch nach einem Kind?
Mit jedem Kind beginnt die Welt ganz neu. Hier wird ein Anfang gemacht, der all die Hoffnung und den Zauber in sich birgt, die Anfänge immer begleiten. Die Philosophin Hannah Arendt hat dies mit dem Begriff der „Natalität“ (= Geburtlichkeit) ausgedrückt, der die Fähigkeit jedes Neuankömmlings auf dieser Welt zum Ausdruck bringt, auf unüberbietbare Weise seinen persönlichen Lebensfaden in die großen Netze des Lebens einzufädeln4. Ein neugeborenes Kind steht symbolisch für diese Möglichkeit des absoluten Neubeginns und so ist es kein Wunder, dass der Kinderwunsch Hand in Hand mit Phantasien und Sehnsüchten geht, die sich – wie alle Wünsche und Sehnsüchte – wenig an der Realität orientieren. So manches an diesem Wunsch würden Psychotherapeuten wohl als Projektion bezeichnen. Nichtsdestoweniger ist der Kinderwunsch vermutlich einer der bedeutendsten und tiefsten Wünsche, die Menschen haben können. Er ist in gewissem Sinne die Sehnsucht nach dem Neuanfang der Welt im eigenen Leben. Natürlich gibt es weitere Gründe für den Kinderwunsch, und die folgende Liste beansprucht sicher keine Vollständigkeit und kann individuell fortgeführt werden: Da ist der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und etwas von dem weiterzugeben, was man selbst als wertvoll erlebt; da ist die Lust auf Zukunft, auf Neues, auf Entdeckungen aller Art und auf Abenteuer, die Lust auf Spiel und zweckfreie Freude. Wo in einer durchgestylten und durchgetakteten, oft zermürbenden westlichen Arbeitswelt lässt sich diese zweckfreie Freude noch erfahren? Kinder bringen Chaos und Anarchie ins Leben, aber eben auch neue Ideen, neue Entdeckungen und neue Ansichten. Sie kosten ihren Eltern den letzten Nerv, aber lehren sie viel über das Leben und über sich selbst. Gestresste Manager mögen teure Outdoor-Aktivitäten und Selbsterfahrungskurse buchen – Eltern bekommen dasselbe normalerweise gratis auf dem Spielplatz.
Insbesondere für Frauen spielt auch der Wunsch eine Rolle, sich selbst als „schwanger“ und damit als kreativ in einem nie gekannten Ausmaß zu erfahren. Ein verändertes Körpergefühl und die „Erdenschwere“ einer Schwangerschaft sowie das einmalige Gefühl, zumindest für einige Monate „Zwei-in-Einer“ zu sein, ist eine Erfahrung, die viele Frauen gerne machen möchten, vorausgesetzt, dass es ihnen gut geht und sie die Zeit der Schwangerschaft wirklich genießen können. Immer wieder berichten Frauen leider auch, dass sie als Schwangere zum ersten Mal wirklich explizit Beachtung und Zuwendung bzw. Respekt erfahren haben. Tatsächlich ist die Rolle der Mutter traditionell eine hochgeachtete Rolle, die manche Frau auf wohltuende Weise vergessen lässt, wie wenig geachtet und beachtet sie als Nicht-Mutter in Familie und Arbeitsplatz war. Kinderlose Frauen gelten zumindest in der deutschsprachigen Welt nach wie vor häufig als „karrieregeil“ und machtbesessen und diese Beurteilung ändert sich leider nur langsam.
Angesichts der vielen Facetten des Kinderwunsches wird klar: Die Sehnsucht nach einem Kind ist nie ausschließlich nur der Wunsch nach einem Kind um des Kindes willen – sozusagen zu seinem eigenen Wohl –, sondern selbstverständlich immer auch ein Wunsch der Eltern, der sich mit vielen anderen Wünschen verknüpft. Die Vorstellung, Kinder dürften ausschließlich nur um ihrer selbst willen gewollt werden, war und ist eine fromme Illusion. Früher wünschten sich auch in unseren Breitengraden Bauernfamilien viele Kinder, um für den anstrengenden Arbeitsalltag viele Helfer und im Alter eine Absicherung zu haben und der Wunsch nach Beistand im Alter spielt auch heute noch für viele Menschen eine Rolle, wenn sie sich Kinder wünschen.
Es gibt auch Motive für den Kinderwunsch, über die man durchaus nachdenken und diskutieren sollte: der Wunsch, eine kaputte Beziehung durch ein Kind zu kitten; der Wunsch, wenigstens einen Menschen zum Kuscheln zu haben; der Wunsch nach Macht und Kontrolle über jemanden, der zumindest zeitweise abhängig von den Erwachsenen ist; der Wunsch, ein kaputtes Selbstwertgefühl mithilfe der Selbstbestätigung durch ein Kind zu reparieren. Sich selbst solch fragwürdige Motive einzugestehen und die psychische Ursache für solche Impulse verstehen zu lernen, ist außerordentlich schwierig und ohne therapeutische Hilfe von außen fast unmöglich. Eine Klärung ist jedoch deshalb notwendig, weil ein kleiner Mensch weder Spielball noch Kuscheltier ist und – frei nach Kants Definition von Menschenwürde – nicht ausschließlich Mittel zum Zweck werden darf.
Mit solchen Gedanken verbunden ist eine wichtige Erkenntnis: Der Wunsch nach einem Kind ist nicht einfach vergleichbar mit anderen Wünschen. Es geht hier neben dem berechtigten Wunsch nach einem eigenen glücklichen Leben um eine weitere Person, die das eigene Leben zwar nachhaltig verändern wird, aber grundsätzlich auch ihrerseits und völlig berechtigt Ansprüche stellt und stellen darf. Diese Erkenntnis ist letztlich der Grund, weshalb man ethisch aus dem