Ein Kind um jeden Preis?. Angelika Walser

Ein Kind um jeden Preis? - Angelika Walser


Скачать книгу
genommen, die sich ein Kind wünschen. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt: Der Wunsch nach einem Kind ist ein tiefer und ernster Wunsch. Es gibt gute Gründe, ihm Priorität einzuräumen und die Ethik spricht nicht umsonst vom Kinderwunsch als einem „primordialen Wunsch“, also einem Wunsch allererster Ordnung. „Sich Kinder wünschen“ ist etwas anderes als „sich gut kleiden wollen“ oder „immer etwas Gutes zu essen haben“. Der Kinderwunsch verweist auf tiefe Bedürfnisse, die vermutlich allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur oder Herkunft eigen sind: Ein Kind verleiht einer Liebesbeziehung buchstäblich Ausdruck, lässt sie gewissermaßen Fleisch und Blut werden. Es bestätigt eine Liebesbeziehung und übersteigt sie gleichzeitig auf eine weitere Person hin; ein Kind verbindet die Reihe der Generationen und lässt seine Eltern zum Glied in der langen Kette des Lebens werden, die sich vom Gestern nach Morgen spannt; in einem Kind bleibt auf der Welt etwas von seinen Eltern zurück, auch wenn diese schon lange nicht mehr da sind. Es schenkt dem eigenen vergänglichen Leben daher einen tiefen Sinn, der in den Mühen des Alltags oft selten aufblitzt, aber nichtsdestotrotz vorhanden ist und von jedem, der sich Kinder wünscht, erahnt wird. So gesehen ist der Kinderwunsch in gewissem Sinne Ausdruck des Wunsches nach Unsterblichkeit.

      Angesichts des bisher Gesagten ist es kein Wunder, dass Paare, die sich aus ganzem Herzen ein Kind wünschen und keines bekommen, in eine schwere und umfassende Krise geraten können, die an den Tiefen der Existenz rütteln kann. Sie betrifft die eigene psychische und möglicherweise auch physische Gesundheit und hat Auswirkungen sozialer und letztlich sogar spiritueller Art.

      Eine besondere Schwierigkeit stellt dabei die Tatsache dar, dass sich die Erinnerung an den unerfüllten Kinderwunsch zumindest bei Frauen sozusagen körperlich im Takt einstellt. Die allmonatlichen Schmerzen der Menstruation erinnern in sehr eindrücklicher Weise an die nach wie vor existierende Leere im Bauch. Viele Ratgeber und Websites berichten von der Verzweiflung von Frauen, sich immer wieder aufs Neue bei der monatlichen Blutung dem Entrinnen des Lebens stellen zu müssen. Tatsächlich: Die Erfahrung ungewollter Kinderlosigkeit ist vergleichbar mit einer immer wiederkehrenden Erfahrung des Todes, ist die Erfahrung des „Nichts“, dem die meisten Menschen in ihrem Leben normalerweise und mit gutem Grunde sehr gerne aus dem Weg gehen. Wo „etwas“ sein sollte, ist „nichts“. Wo neues Leben wachsen sollte, wächst nichts.5 Die Pläne für ein schönes Leben mit einer Familie platzen alle vier Wochen erneut wie eine Seifenblase. Übrig bleiben Ohnmacht, Frustration, manchmal auch Zorn auf sich selbst und auf den Partner: Warum funktioniert nicht, was doch angeblich die natürlichste Sache der Welt ist? Wer ist schuld, er oder sie oder beide? Soll man oder frau „es“ einmal mit einem anderen Partner/einer anderen Partnerin ausprobieren? Und: Warum bekommen Leute Kinder, die offensichtlich dazu völlig ungeeignet sind? Leute, die ihre Kinder quälen und missbrauchen? Warum man selbst nicht? Gibt es irgendwelche verborgenen Ursachen – einen Gendefekt in der Familie, einen Defekt in der eigenen Psyche? Die Suche nach der Ursache kann qualvolle und selbstzerstörerische Züge annehmen.

      Vor allem Frauen berichten von zunehmendem Zorn und sogar Hass auf den eigenen Körper: Wieso kann dieser Körper, in dem man sich bisher durchaus zuhause gefühlt hat, einem anderen kleinen Körper keinen Schutz und Geborgenheit bieten? Man bereitet sich doch auf die Möglichkeit einer Schwangerschaft vor, ernährt sich gesund, treibt Sport usw.? Wieso verweigert er eine Schwangerschaft und spült Monat für Monat nutzlose Keimzellen aus? Stimmt etwas nicht mit ihm? Liegt es etwa an der Beziehung, die zu Unfruchtbarkeit verdammt scheint?

      Partnerschaften werden durch den unerfüllten Kinderwunsch in erheblichem Maße belastet und auf die Probe gestellt. Dies betrifft auch das Sexualleben von Paaren. Wo früher Intimität, Zärtlichkeit und Lust herrschten, regieren jetzt diverse Methoden und Instrumente der Fruchtbarkeitsmessung. Genauestens wird die Zeit des Eisprungs bestimmt, und selbstverständlich ist „Sex nach Plan“ nun an der Tagesordnung. Spontaneität ist hier ebenso wenig möglich wie die Erlaubnis zu Lustlosigkeit. Alles wird dem Diktat des Eisprungs untergeordnet. Sollte es „wieder nicht geklappt haben“, regieren Selbstbeschimpfung oder Zorn auf den anderen.

      Meist errät die nähere Umgebung kaum, welches Drama sich hier abspielt, denn Paare mit unerfülltem Kinderwunsch reden nur selten über ihre Probleme und ziehen sich oft zunehmend zurück. Sie meiden Familienfeste, Kindergeburtstage anderer Kinder, manchmal sogar Schulen, Kindergärten, Spielplätze und Schwimmbäder. In der Psychologie wird heute diskutiert, inwiefern solche Reaktionen auf einen unerfüllten Kinderwunsch noch im Bereich einer erheblichen, aber doch nachvollziehbaren Trauerreaktion liegen oder ob sie als wirklich pathologisch und damit als medizinisch behandlungsbedürftig bewertet werden sollen. So existieren in der Literatur Versuche, ein „Child-at-all-cost-Syndrom“ anhand bestimmter Kriterien zu beschreiben, doch stellt sich die Frage, ob depressive Verstimmungen, sexuelle Unlust und sozialer Rückzug nicht einfach Formen der tiefen Trauer sind, die angesichts der oben beschriebenen Erfahrungen leicht nachvollziehbar sind. In der Hightechwelt Mitteleuropas und Amerikas fällt es vielen Menschen zunehmend schwer, mit Nichtgelingendem umzugehen.

      Auch wenn man derartigen Debatten also skeptisch gegenübersteht, macht diese Diskussion doch deutlich, dass viele Paare mit dem unerfüllten Wunsch nach einem Kind kämpfen und Unterstützung bräuchten – nicht unbedingt in jedem Fall von einem Therapeuten, aber zumindest von guten Freunden, Bekannten und Verwandten. Die meisten Paare, die irgendwann über ihr Problem sprechen lernen, machen die Entdeckung, dass viele Menschen in ihrer Umgebung durchaus verständnisvoll und diskret reagieren. Allerdings gibt es auch die Spezies der „wohlmeinenden“ Ratgeber und Ratgeberinnen, die mit Artikeln aus Frauenillustrierten, ungebetenen Einschätzungen der Situation und zweifelhaften erotischen Unterwäsche-Geschenken die Lage eher verschlimmern als verbessern. Es bleibt also immer ein gewisses Risiko, wenn Paare sich als „unfreiwillig kinderlos“ outen, so wie letztlich jeder Mitteilung über sich selbst immer ein gewisses Risiko anhaftet, vor allem, wenn es eine Mitteilung über die eigenen Schmerzen und Verwundungen ist. Wem man seine Situation anvertraut, dafür gibt es letztlich kein Patentrezept.

      In einer besonderen Situation befinden sich Paare, für die ihre Religion eine große Rolle spielt. Alle Religionen der Welt betonen die Bedeutung von Kindern, so auch das Christentum. Zumindest bei einer katholischen Trauung ist dezidiert in der Liturgie die Rede von den „Kindern, die Gott euch schenken will“. Was aber, wenn Gott offensichtlich keine Kinder schenken will? Die theologische schöne und sinnvolle Rede vom Geschenkcharakter des Lebens, die implizit und zu Recht Kritik an menschlichem Machbarkeitswahn enthält, kann hier unter Umständen vollkommen unbeabsichtigt eine destruktive Wirkung entfalten und zu einer tiefen spirituellen Krise führen. Die zumindest in den christlichen Kirchen häufig vorhandene pastorale Fixierung auf das Ideal der Familie und Elternschaft kann diese Krise unter Umständen noch verstärken. Mutter-Kind-Kreise, Krabbelgruppen, Familiengottesdienste und Mutter- bzw. Vatertagszeremonien machen unfreiwillig (und übrigens auch freiwillig) kinderlose Paare sehr schnell zu Außenseitern und Außenseiterinnen in der christlichen Gemeindewelt und tragen damit ungewollt zu ihrer sozialen Isolation bei. Mehr Sensibilität in Liturgie und Pastoral wäre gefragt.

      Allerdings betrifft das Problem nicht nur das Christentum. Alle großen etablierten Religionen sind mit der Tatsache konfrontiert, dass es eine wachsende Anzahl von Menschen gibt, die – unfreiwillig oder auch ganz freiwillig – ein Leben ohne Kinder führen oder auch nach neuen Formen des familiären Miteinanders suchen, sich aber nach wie vor als Mitglieder ihrer Kirche oder ihrer religiösen Gemeinschaft begreifen. Hier sind derzeit gesellschaftliche Transformationsprozesse im Gange, die in ihrer Wirkung auf etablierte Religionen noch gar nicht absehbar sind. Die individuelle Vielfalt von Lebensformen wächst und angesichts des neuen Kunterbunts an Lebensentwürfen und Familienkonstellationen sind Religionen gefordert, auch in ihren jeweiligen ethischen Systemen Antworten zu finden, die jenseits fundamentalistischer Verengungen liegen.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив


Скачать книгу