STAYONFIRE. Thaddäus Schindler
heute nicht mehr so tun, wie er es damals durch die ersten Christen getan hatte. So war jedenfalls unser Denken.
Ich möchte an dieser Stelle nicht abwertend über diese Glaubenseinstellung reden. Auch sie hat ihre Geschichte und ihre Argumente. Es wäre falsch, sie als kleingläubig abzustempeln. Es stehen nur andere Dinge im Mittelpunkt. Als ich noch ein Kind war, entschlossen sich meine Eltern, zusammen mit ein paar anderen Leuten einen neuen Schritt zu wagen. Sie verließen die bekannten Kreise und steckten ihre Energie in Gemeindegründungsprojekte in Berlin. Allerdings kam auch dort eine Vielzahl der Besucher aus ziemlich konservativen Gemeinden, wodurch das Erleben von spontanen Heilungen und Wundern nicht gerade im Fokus stand. So hatte ich nur wenig bis gar keine Berührung mit diesen Erfahrungen. Trotzdem lebte ich meinen Glauben mit voller Leidenschaft.
Rückblickend würde ich sagen, dass mir manchmal einfach der Horizont fehlte, um zu begreifen, was Gott heute alles noch tun konnte. Daran änderte unter anderem die Jesus Culture Konferenz im Oktober 2011 in Berlin etwas. Sie erweiterte meinen Radius tatsächlich auf eine besondere Weise. Selten zuvor habe ich erfahren, was es bedeutet, Gott ganz konkret einzuladen, übernatürlich zu wirken. Und das erlebte ich dort. Menschen wurden durch Gebet geheilt, an anderen Stellen wurde prophetisch in das Leben einzelner Teilnehmer gesprochen. Es war wirklich krass.
Gleichzeitig hörte ich auf der Konferenz bewegende Geschichten von gewöhnlichen jungen Leuten, die mit Gebet und Glauben ihre Schule positiv veränderten. Das war einfach abgefahren. All die Geschichten entfachten in mir ein stärkeres Feuer für Jesus. Ich verstand, dass da mehr ist. Mehr von Gott. Mehr zu erleben.
Am Samstagabend, den 1. Oktober 2017, spielten Jesus Culture in ihrem Konzert das Lied „Come Away“, in dem es heißt: „Come away with me. I have a plan for you. It’s gonna be wild.“ Während ich da in der Masse von Leuten stand, traf ich für mich die Entscheidung: „Ja, Gott, hier bin ich. Ich möchte deinem Plan folgen. Gebrauche mich und rock mein Leben.“ Auch wenn ich nichts dabei spürte oder sonst irgendetwas passierte, wusste ich tief in meinem Herzen, dass ich einen entscheidenden Entschluss gefasst hatte. Einen Entschluss, der mich ein Leben lang begleiten würde.
Auf der Konferenz traf ich außerdem einen flüchtigen Bekannten, für den diese übernatürlichen Geschichten ganz natürlich waren. Er hieß Simon und war nur ein paar Jahre älter als ich. Wir beschlossen, uns nach der Konferenz zu treffen, um uns über diese Dinge auszutauschen. Und das taten wir auch. Im Rückblick kann ich sagen, dass diese neu gewonnene Freundschaft wirklich ein göttliches Timing hatte. Durch Simon lernte ich ganz neu, was es heißt, Gott mehr Raum in seinem Alltag zu geben. Simon war es auch, der mich auf die Idee brachte, in meinem Zimmer Worship zu machen. Das hatte ich zuvor überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt. Und so wurden aus einem Treffen mehrere Treffen und aus einem flüchtigen Kontakt eine Freundschaft. Eine Freundschaft, die mich auf den Moment in der Straßenbahn vorbereitete.
Da sitze ich also fünf Monate nach dieser besonderen Konferenz und Gott gibt mir den Eindruck, für Tim zu beten. Ich erinnere mich an die großartigen Geschichten, die ich dort gehört hatte. Vielleicht ist jetzt der Moment, in dem Gott auch mich gebrauchen möchte, um ein Wunder zu tun, denke ich.
Ich stehe von meinem Sitz auf, trete entschlossen auf Tim zu und frage ihn, ob ich für seinen Fuß beten kann. Tim nickt verdutzt. Während alle Menschen um uns herum zugucken, gehe ich im Gang auf die Knie und berühre seinen verknacksten Fuß. Ich bete laut mit Glauben. Dann frage ich, ob es besser geworden ist …
Nein, das kann ich nicht machen, niemals!, bringe ich die Szenerie, die in meinem Kopf Fahrt aufgenommen hat, zu einem abrupten Halt. Es muss einen anderen Weg geben, für ihn zu beten!
Plötzlich kommt mir eine Idee. Heute ist Freitag. Tim hatte sich nach unserem intensiven Chat auf Facebook dazu entschieden, mit in unsere Jugendgruppe zu kommen. Wir treffen uns jeden Freitag um 18 Uhr in den Gemeinderäumen. Er ist nun schon zwei Mal dort gewesen und betonte hinterher immer, wie sehr es ihm gefallen habe. Auch heute wollte er dabei sein. Yes! Das ist meine Möglichkeit. Heute Abend werde ich für ihn beten, beruhige ich mich selbst.
Ich nehme den letzten Schluck aus meinem Thermobecher, bevor Tim und ich die Zielstation erreichen. Marktplatz Adlershof. Wir steigen aus. Mittlerweile ist es kurz nach halb acht. Langsam überqueren wir die Hauptstraße und biegen in eine schmale Nebenstraße ein. Mühsam kämpft sich Tim Schritt für Schritt voran. Vor uns und hinter uns laufen andere Schüler zum Schulgebäude. Etwas unsicher sage ich leise zu Tim: „Du, weißt du was, Tim? Ich werde heute Abend mal für deinen Fuß beten. Das liegt mir auf dem Herzen. Gott kann deinen Fuß heilen.“ Erstaunt und etwas überrascht gibt Tim zurück: „Wirklich? Gerne!“
Das gesamte Mitarbeiterteam der Zapfsäule – so nannte sich damals meine Jugendgruppe – hatte die grauen Kellerräume unserer Gemeinde in eine coole Event-Location für Jugendliche umgestaltet. Freshe Farben, nice Einrichtung und fette Technik. Wir hatten alles da, was wir brauchten. Billard, Tischkicker und eine legendäre Tischtennisplatte. Das volle Programm. Den Hauptraum hatten wir mit einer selbst gebauten Tribüne zu einem richtigen Eventsaal aufgerüstet. Dort machten wir unsere Worship- und Inputsessions.
Wir waren ein begeistertes Mitarbeiterteam von 10 bis 15 Leuten und veranstalteten als Zapfsäule jeden Freitag einen bunten Abend voller Action, Musik, Essen, Spaß und Input. Es kamen immer so zwischen 30 und 40 Jugendliche, die hauptsächlich aus den umliegenden Dörfern und Städten Brandenburgs anreisten. Wir versuchten, mit unseren christlichen Events etwas anzubieten, was Jugendliche auf dem Dorf vermissten. Action, Lautstärke und Jugendklub-Feeling. So wurde unsere Zapfsäule zu einem echten Anziehungspunkt für junge Leute am südöstlichen Speckgürtel von Berlin.
Am Abend sitzen Tim und ich auf der selbst gebauten Tribüne im Hauptsaal der Zapfsäule. Im Hintergrund läuft leise Worship-Musik. Die Stimmung ist andächtig. Es ist eine Zeit, in der sich jeder ganz persönlich die Zeit nehmen kann, mit Gott in Verbindung zu treten. Einige beten leise vor sich hin, andere sitzen einfach nur still da, wiederum andere malen etwas auf einem weißen Stück Papier und geben so ihren Gedanken einen kreativen Ausdruck.
„Kann ich jetzt für dich beten?“, flüstere ich Tim zu. Dankbar und erleichtert, dass jemand diese befremdliche Stille unterbricht, gibt Tim leise zurück: „Ja, gerne.“ Der Zustand des Fußes ist über den Tag nicht besser geworden. Ganz im Gegenteil. Tim konnte heute Abend bislang nur durch die energiegeladene Zapfsäule humpeln. Ein Wunder, dass er überhaupt gekommen ist, denke ich.
Nun lege ich meine Hand auf seinen Fuß und fange an zu beten. Lautlos. Für mich allein. In Gedanken. Ehrlich gesagt, bin ich ganz dankbar dafür, dass die Stimmung im Raum so andächtig ist. Ein lautes Gebet würde da definitiv nicht passen. Zumal Tim eh keine Erfahrungen mit Gebet hat und somit auch nicht erwartet, dass ich laut für ihn bete. Jesus, sage ich in Gedanken, du kannst diesen Fuß heilen. Es geht allein um deine Ehre. Lass Tim erleben, dass es dich gibt. Bitte heile seinen Fuß, in deinem Namen. Ich fühle mich unsicher, und weil mir die Worte ausgehen, wiederhole ich mein Gebet. Einmal, zweimal, immer so weiter.
Mit einem Mal merke ich, wie mein Glaube für Gottes Wunder zunimmt. Ja, Gott, schenke mir den Glauben, dass du heute immer noch Wunder tust. Du bist fähig! Während sich in meinem Herzen eine lautlose Stimme zu Gott erhebt, sitzt Tim ahnungslos mit geschlossenen Augen da und hält geduldig die Stille aus. Nachdem ich 5, wenn nicht sogar 7 Minuten immer dasselbe gebetet habe, sage ich mit gedämpfter Stimme Amen.
Ohne dass ich ihn dazu auffordere, streckt Tim seinen verstauchten Fuß aus. Langsam lässt er seine Fußspitze kreisen und bewegt den kaputten Knöchel. Völlig perplex schaue ich auf seine Bewegungen, die schneller werden. Ich kann es nicht fassen. Plötzlich steht Tim auf und versucht, auf dem kaputten Fuß aufzutreten. Langsam berührt Tims Fuß den Teppich, bis schließlich sein gesamtes Körpergewicht auf seinem Fuß lastet. „Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich kann wieder normal auftreten. Mein Fuß funktioniert wieder einwandfrei!“, verkündet Tim freudestrahlend. „Krass“, gebe ich völlig überfordert zurück. Ich kann es selbst nicht fassen. Was ist