Der wilde Sozialismus. Charles Reeve
stand, so rapide in den unteren Klassen ausbreitete, beunruhigte das revolutionäre Bürgertum. Insofern kann man der Behauptung, dass »das Misstrauen gegenüber den vom Volk spontan geschaffenen Entscheidungsformen und -organen sowie schließlich ihre Unterdrückung« deutlich den bürgerlichen Charakter der Revolution bezeugten, nur zustimmen.15
Obwohl Kropotkin lediglich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossenen Quellen zur Verfügung standen, erwies er sich mit seiner Studie über die Revolution als ein ernstzunehmender Historiker. Dabei machte er ihre verschiedenen politischen Optionen deutlich, arbeitete die Prinzipien der damaligen sozialen Bewegung heraus und bezog sie auf die Zukunft, indem er sie als Vorläufer des modernen politischen Radikalismus begriff: Die Französische Revolution war »die Quelle aller kommunistischen, anarchistischen und sozialistischen Anschauungen unserer Zeit«.16
DIE VERDRÄNGUNG DES REVOLUTIONÄREN GEISTES
Ohne uns im komplexen Verlauf der Französischen Revolution zu verlieren, müssen wir uns an dieser Stelle einige ihrer Hauptkräfte vergegenwärtigen. Zunächst die Bedeutung der Volksorganisationen, der Komitees und Sektionen. Ohne dieses revolutionäre Ferment, diesen Radikalismus der Straße, wäre das politische Leben in den Klubs genauso unvorstellbar gewesen wie die scharfen Konflikte zwischen den Hauptströmungen der Revolution. Auch ein sozialdemokratischer Theoretiker wie Karl Kautsky, der schwerlich zur Unterstützung einer schöpferischen Spontaneität neigte, erkannte ein Jahrhundert später an, dass die wichtigsten Momente der Revolution aus der Erhebung des Volkes und seiner kollektiven Initiative hervorgegangen waren: »die bedeutendsten Beschlüsse der verschiedenen Nationalversammlungen, der Konstituante, der Legislative, des Konvents bestätigten nur, was das Volk bereits getan; in den revolutionären Kämpfen zeigten sich diese Versammlungen haltlos, Direktiven vom Volk empfangend, nicht sie ihm gebend«.17 Geist und Energie der Revolution verlagerten sich ständig, je nachdem, wie sich die Funktion von Organisationen wandelte. Kropotkin zählte zu den Autoren, die diese jeder revolutionären Situation eigene Bewegung plastisch darzustellen vermochten. Im Zusammenwirken von politischem Handeln und den Widersprüchen des revolutionären Prozesses büßten die Volksorganisationen ihre ursprüngliche souveräne Funktion zusehends ein und verwandelten sich in Rädchen der Staatsmaschinerie. So gelang es dem zentralisierten Staat, den Komitees und Sektionen, die das Fundament der revolutionären Kommune bildeten, ihre gesellschaftlichen Funktionen zu nehmen und sie der eigenen Bürokratie zu unterwerfen. Entscheidend für diese Unterordnung unter den Nationalstaat war das große Gewicht, das polizeiliche Aufgaben der sozialen Kontrolle und Repression erlangten, nachdem ausländische Mächte der Revolution den Krieg erklärt hatten. »Der Staat hatte sie verschlungen. Und ihr Tod war der Tod der Revolution«, schrieb Kropotkin über die Sektionen und zitierte Michelets Bemerkung, dass »das öffentliche Leben in Paris vernichtet« worden sei.18 Das Zentrum der Revolution verschob sich daraufhin in die Klubs, was die Auslöschung der Kommune und sodann der radikalen Enragés erleichterte. Die Tatsache, dass die Jakobiner die revolutionäre Kommune 1793 gegen die Montagnards unterstützten, nur um sich ein Jahr später gegen sie zu wenden und die führenden Köpfe der Hébertisten – Chaumette und Hébert – hinzurichten, ist ein weiterer Beleg für das politizistische und insofern opportunistische Wesen dieser Strömung des radikalen Bürgertums.
DIE SACKGASSE DER SOUVERÄNEN AUSNAHME
Nachträglich verwischt in der großen Debatte über den Terror, wurde die Frage der souveränen Ausnahme kurzerhand auf die Vergeltungsmaßnahmen des Volkes, die einzigen direkten Gewaltaktionen, reduziert. Während die gemäßigteren Girondisten jede direkte Ausübung der Souveränität mit Anarchie und Barbarei gleichsetzten, versuchten die Jakobiner die »souveräne Vergeltung« in den institutionalisierten Terror zu kanalisieren. Insofern kann die »institutionalisierte Vergeltung« – die Einrichtung der Revolutionstribunale im Jahr 1793 und der Erlass repressiver Gesetze – als eine zur Eindämmung von Aktionen der direkten Souveränität notwendige Maßnahme gesehen werden: Der Terror des Staates diente dazu, die überschießenden Momente der Volkssouveränität zu neutralisieren.19 Wie Danton sagte: »Seien wir furchterregend, damit das Volk es nicht sein muss.« Damit schien die »Unfähigkeit« des Volkes zur Ausübung seiner Souveränität bestätigt, die nun als Quelle von Exzessen, ja »Terror« galt.
In dieser Frage sollten wir nochmals die scharfsinnige Analyse von Karl Kautsky heranziehen, für den der Einsatz von Terror durch das Volk mehr war als eine »Kriegswaffe«, die der Demoralisierung des inneren Feindes und der Mobilisierung gegen den äußeren diente. Sicherlich erzwang der Kriegszustand den Terror. Dieser war aber auch ein Produkt der historischen Situation: »Die Verhältnisse hatten ihnen [den Sansculotten] die Macht in die Hand gespielt, aber die Möglichkeit versagt, dauernde Institutionen zu ihrem eigenen Vorteil zu schaffen. Sie, denen die Machtmittel von ganz Frankreich zu Gebot standen, konnten und wollten sich aber auch nicht willenlos dem Elend unterwerfen, das die rasch sich entwickelnde kapitalistische Wirtschaft über sie brachte, und das der Krieg noch verstärkte; sie mußten es bekämpfen durch gewaltsame Eingriffe in das wirtschaftliche Leben […], ohne ihrem Ziele näher zu kommen. Die Ausbeutung war wie eine Hydra, je mehr Köpfe ihr abgeschlagen wurden, desto mehr wuchsen ihr nach. Ihr zu begegnen, wurden die Sansculotten immer weiter getrieben«.20
Je mehr das Volk gegen das Ancien Régime kämpfte, umso mehr stärkte es die Macht der neuen Ausbeuter, da »die Verhältnisse […] alles unhaltbar machten, was der kapitalistischen Revolution im Wege stand«.21 Kautsky vertritt die These, dass diese Sackgasse eine direkte Ausübung der Souveränität erschwerte, das Volk von jeglichem emanzipatorischen Projekt abbrachte und es im Gegenteil in Richtung Terror trieb.
DIE »GEFÄHRLICHKEIT« DES VOLKES
Die Annahme einer »Gefährlichkeit« des Volkes kam bereits lange vor der Revolution und der Philosophie der Aufklärung auf. Für englische politische Philosophen des ausgehenden 17. Jahrhunderts wie Thomas Hobbes und John Locke konnte das Aufbegehren der Unterdrückten niemals die Legitimität der Regierung und anderer politischer Institutionen infrage stellen, sondern allenfalls in Situationen von Machtmissbrauch geduldet werden. Das bürgerliche politische Denken der Französischen Revolution brach mit dieser Auffassung nicht wirklich und begegnete dem Eingreifen des Volkes mit derselben Vorsicht. Nach dem Thermidor verwandelten sich die arbeitenden Klassen in der Vorstellungswelt der Mächtigen allmählich in gefährliche Klassen, in den bewaffneten Arm der jakobinischen Ideen.
In den 1840er Jahren setzte sich der Gedanke der »gefährlichen Klassen« dann in der bürgerlichen Wahrnehmung von Volksaufständen und Revolutionen durch, bevor er schließlich eine Verfeinerung in den Studien von Gustave Le Bon erfuhr.22 Das Bild des Volkes, des entstehenden Proletariats, musste dem einer Menge von potenziellen Verbrechern oder gar Geistesgestörten, einer desorganisierten, formlosen und wilden Masse angenähert werden, die einer aufgeklärten und bewussten Führung harrte. Bis heute bildet die Furcht vor blinden, barbarischen Akten der »Massen« eine Legitimationsquelle des repräsentativen Systems, das sich als die einzig machbare und verantwortungsvolle Form von Demokratie präsentiert – als Regierung der Fähigen anstelle einer Regierung der Unfähigen, wie Robespierre und seine Freunde meinten. Das jakobinische Modell einer Delegierung der Souveränität an Führer, die die Fähigkeit hätten, im Rahmen des Gesamtinteresses der Nation die Interessen des einfachen Volkes zu vertreten, bildet zusammen mit der Konstruktion eines »Gesellschaftsvertrags« von oben den roten Faden der demokratischen politischen Theorie.
Der Triumph des repräsentativen Systems über die Erfahrungen direkter Volkssouveränität sowie die Gleichschaltung der souveränen Ausnahme vollzogen sich im Verlauf der Revolution weder linear noch ohne Konflikte. Einige der bekanntesten Vertreter der vorherrschenden Geschichtsschreibung sprechen von einer »Tendenz zur Praxis einer direkten Regierung und zur Einführung einer Demokratie des einfachen Volkes«23, die »spontan und nicht als Anwendung eines a priori gegebenen Systems« entstanden sei.24 Anstatt jedoch zu erkennen, dass »sich die direkte Demokratie, praktisch wie logisch, durchaus aus der Volkssouveränität ›ableitet‹«25, wird