Brücken zwischen Leben und Tod. Iris Paxino
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Generell kann man immer, wenn man den Eindruck hat, dass der über die Schwelle Gegangene desorientiert, verwirrt oder verunsichert sein könnte, Hilfestellung leisten. Entscheidend ist, ihm deutlich zu Bewusstsein zu bringen, dass er sich nicht mehr in der irdischen Welt befindet und dass er sich in seiner neuen ätherischen Umgebung neu orientieren muss. Man kann seine Aufmerksamkeit auf das geistige Geschehen richten und ihm begreifbar machen, dass er durch seinen Schutzengel oder durch die ihn empfangenden Verstorbenen Hilfe und Orientierung erhalten kann. Ausschlaggebend dabei ist, dass der Betroffene nun einen eigenen Impuls erlebt, sich von der Erde zu lösen und sich der geistigen Welt zuzuwenden.
Der Augenblick des Todes gestaltet sich also immer individuell und ist vom eigenen Erkennen und Erleben geprägt. Das eigene Bewusstsein bestimmt die Wahrnehmung des Eintritts in die ätherisch-geistige Welt. Ebenfalls vom eigenen Bewusstsein und von der persönlichen Seelenverfassung hängt es ab, ob und welche geistigen Wesenheiten der Verstorbene um sich herum erkennt. Ein lichter, klarer, vertrauensvoller Schwellenübergang ermöglicht das Wiedererkennen der geistigen Heimat und die Wiederbegegnung mit den engsten Schicksalsfreunden: dem eigenen Schutzengel und den nahen Verstorbenen. Ein unbewusster, verängstigter oder verdunkelter Seelenzustand kann dagegen viel schwieriger die Wahrnehmung lichter Wesenheiten möglich machen. Von daher können hier auch dunkle oder dämonische Geistgestalten erlebt werden, da sie Teil des eigenen Seelenerlebens sind. – All dies bildet die subjektive Komponente des Todesgeschehens.
Die objektive Komponente des Todesmomentes ist, dass ausnahmslos jeder Verstorbene licht- und liebevoll von den ihm nahen Geistwesen empfangen und aufgenommen wird. Die geistige Welt heißt ihre Heimkehrer stets willkommen.
Die Zeit in der Ätherwelt
Den Schmerz bezwinge, der um Formen trauert,
gedenke dessen, was ewig dauert.
Der Glockengießer, der sein Werk vollbringt,
zerstört die Form – und seine Glocke klingt.
So auch zerstört mit seinem Schwingenschlag
der Tod die Form,
auf dass die Seele tönen mag.
Manfred Kyber: «Befreiung»
In den ersten Tagen nach dem physischen Tod lebt der exkarnierte Mensch weiter in seinem Ätherleib und kann darin recht leicht wahrgenommen werden. Als ätherische Erscheinung ähnelt er noch sehr stark seiner gewesenen physischen Gestalt. Auch zeigt er sich vor dem inneren Auge so, als ob er die ihm entsprechende irdische Kleidung tragen würde. Diese Merkmale sind ein deutlicher Hinweis auf sein erdennahes Dasein in der Ätherwelt. Sobald der Verstorbene in weitere Sphären eintritt, verändert sich seine geistige Erscheinung für unsere Wahrnehmung.
Der Ätherleib ist der Träger von Erinnerungen, Gedanken, Lebensprozessen und Gewohnheiten. Wenn er sich aus seiner Bindung an den physischen Leib löst, werden sämtliche dem Ätherleib eingeschriebenen Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen der soeben vergangenen Inkarnation frei. All diese lebendigen, schnell ablaufenden Bilder seines Lebens umgeben den Verstorbenen wie ein beseelter Film und offenbaren ihm die Gesamtheit seines Lebens. Die Ereignisse seines irdischen Seins, bis in die früheste Kindheit zurückgehende Episoden, seine bewussten und unbewussten Taten, auch vergessene Begebenheiten und übersehene Geschehnisse erscheinen nun in dieser Bildfolge. Das Bewusstsein in der ätherischen Welt ist insofern ausgedehnt, als der Mensch in jeder dieser Lebensszenen selbst erlebend anwesend ist; gleichzeitig erschaut er diese Erlebnisse aus dem Blickwinkel eines objektiven Betrachters.
Diese Lebensrückschau wird auch sehr häufig in Nahtoderfahrungen beschrieben. Bereits im Nahtodzustand hat sich der Ätherleib weitgehend aus dem physischen Leib gelockert, wenn auch noch nicht unumkehrbar. Einer der Interviewpartner meiner Nahtodstudie beschrieb diesen Vorgang folgendermaßen:
«Gleichzeitig war eine Flut von Licht da, ich möchte nicht sagen, das kam von irgendwoher, ja, es war einfach Licht da, als ob es so floss durch den ganzen Raum. Und verbunden damit war ein Gefühl von Wirklichkeit, wie ich es zuvor noch nie erlebt habe. Und es war auch das Gefühl, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich sehen, als ob ich all das, was ich davor für Sehen oder Wahrnehmen gehalten habe, diesen Namen eigentlich gar nicht verdient. Das merkte ich in diesem Augenblick … so … ja, ein wirkliches Gefühl von Wirklichkeit und ich war Teil der Wirklichkeit. Und … ich sah dann, und alles zur gleichen Zeit, mein gesamtes Leben. Es war alles da, es fehlte nichts, es war … jedes Detail war da und es war alles gleichzeitig. Und in dem Augenblick erkannte ich, es war alles in Ordnung gewesen, es hat alles gestimmt, und in diesem Fall, in diesem Augenblick setzte auch eine unbeschreibliche Freude ein, so über dieses schöne Leben. Und gleichzeitig war ein Gefühl von tiefer Traurigkeit und Bedauern über die vielen vergeblichen, gar nicht notwendigen Mühen, mit denen ich mich und andere Menschen gequält hatte, um Dinge in Ordnung zu bringen, in Unkenntnis, dass sie längst in Ordnung waren. Und in dem Augenblick war mir auch klar, dass Zeit ein Begriff ist, der vielleicht innerhalb eines ganz kleinen Bezugsrahmens eine Gültigkeit hat. Aber darüber hinaus gibt es diese Gültigkeit nicht. Ich glaube, wir haben die Wahl, uns innerhalb der Zeit oder außerhalb der Zeit, das heißt in der Gegenwart, uns aufzuhalten. So dieses Gefühl von Zeitlosigkeit oder von Augenblicklichkeit oder von Gegenwärtigkeit. (…) All das kam aus diesem Blick zurück auf das Leben, es war wirklich ein Blick zurück, denn das, was ich sah, war nicht vor mir, sondern es war hinter mir, diese Lebenslandschaft. Es war hinter mir und trotzdem sah ich es, als ob es vor mir wäre.»
Ein anderer Interviewpartner hatte während eines Herzinfarktes eine Nahtoderfahrung. Seinen dabei erlebten Lebensrückblick beschrieb er sehr detailliert:
«Das war so, dass es da begann, wo ich den Schweißausbruch hatte (damit ist sein Herzinfarkt gemeint), und dann ging es rückwärts, jedes Ereignis, was ich hatte, zurück bis da, wo ich auf die Welt kam. Ich war ja eine Sturzgeburt, das wusste ich ja von meiner Mutter, aber das konnte ich mir nicht vorstellen, was das ist, eine ‹Sturzgeburt›. Und da konnte ich sehen, wie meine Mutter so gestützt dasaß, und mein Vater war vor dem Bett gekniet, er hat praktisch schon auf mich gewartet. Ich konnte ihn sehen, wie er mit offenen Armen praktisch schon dasaß. Und dann in Sekundenschnelle war ich da, ich sehe, wie mein Vater mich empfangen hat in seine Arme.»
Er gibt weitere Einzelheiten seiner Lebensrückschau wieder, hier nur ein kurzer Ausschnitt daraus:
«Ich sah dann die Bilder von meinem Leben. Und wenn es eine gute Tat, ein gutes Bild war, sah das Ganze hell aus, wenn die Absicht nicht gut war, war es eine dunkle Einbuchtung, verstehen Sie? Ich sah da, wie ich als junger Bursche mit den Mädchen herumgemacht habe, verzeihen Sie, Sie wissen, was ich meine, oder? Ich meine, das war nichts Böses, aber so als junger Bursche, da spielt man gerne mit den Mädchen und man verspricht so Sachen, die man nicht eingehalten hat, nur weil man ja etwas von ihnen bekommen will. Sie verstehen, was ich da meine, nicht wahr? Das muss ich Ihnen ja nicht erklären, Sie wissen, so die jungen Burschen machen das halt manchmal, wenn sie etwas von den Mädchen wollen und das habe ich damals auch gemacht. Aber das war nicht wirklich schlimm oder böse, manchmal war es ja nur eine Absicht, also man hat nicht immer etwas wirklich gemacht, aber das habe ich dann dunkel gesehen, das war ein dunkles Bild.»
«Sie meinen, dass Ihnen nicht nur die negativen Taten, sondern auch die negativen, zweifelhaften Absichten als dunkel erschienen sind?»
«Ja, genau, die Absichten auch.»
Der zusammengeraffte Eindruck des eigenen Lebens, den man als Zuschauer und zugleich als Agierender erlebt und durch den man unmittelbar die Bedeutung der eigenen Taten und Absichten wahrnimmt, ist für jeden, der diese Erfahrung macht, eine bestürzend tiefe Einsicht in das eigene Leben. Der Verstorbene sieht sich hier mit allen Facetten seines gewesenen Lebens in einer Weise konfrontiert, in der nichts beschönigt oder verfälscht ist. Alle Selbsttäuschung und Verschleierung, alle Maskierungen und Unaufrichtigkeiten fallen ab, ohne Wenn und Aber. Die Unterscheidung zwischen «gut» und «schlecht» vollzieht sich nicht infolge eines von außen