Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge
FRANCES HARDINGE
Wunsch
Traum
Fluch
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Verlag Freies Geistesleben
Der Tyrann aus der Temple Street
Ein Unwetter und ein Unterschlupf
Für meine wunderbare Mutter Anthea, die mir die Augen für die Welt der Worte öffnete.
Josh würde es schaffen. Einen wundervollen Augenblick lang glaubte Ryan fest daran. Als sie um die Ecke gebogen waren und gesehen hatten, dass der Bus schon an der Haltestelle stand, war Josh losgesprintet, wobei er Spatzen aus den Büschen und Wasser aus den Pfützen aufspritzen ließ. Der Busmotor stieß ein lang gezogenes, erschöpftes Seufzen aus und verlagerte sein Gewicht nach vorn, als ob er die Schultern gegen den Regen stemmen wollte, aber immer noch glaubte Ryan, dass Joshs Anstrengungen in letzter Sekunde von Erfolg gekrönt sein würden, wie immer. Und dann, gerade in dem Moment, in dem Josh die Rücklichter erreichte, wandte sich der Bus trotzig vom Bordstein ab und fädelte sich auf der Fahrbahn ein. Die Reifen hinterließen lange, matte Streifen auf dem nass glänzenden Asphalt.
Josh jagte dem Bus etwa fünfundzwanzig Meter nach. Dann sah Ryan durch die winzigen Regentropfen, die seine Brille sprenkelten, wie sein Held stolperte, langsamer wurde und mit dem Fuß gegen einen Laternenpfahl trat.
Ryan hatte das Gefühl, als ob der Bus im Wegfahren seinen Magen mitgenommen hätte, genauso wie das letzte Licht des Sommertages. Plötzlich kam ihm die schäbige Ladenreihe kälter, dunkler und verlassener vor als noch vor ein paar Minuten. Auf seiner Zunge schmeckte Ryan den Schokoladen-Milchshake, dessentwegen sie den Bus verpasst hatten, und der Geschmack verursachte ihm Übelkeit.
Hinter sich hörte er Chelles asthmatisches Keuchen. Er drehte sich um und sah, wie ihre zitternden Hände mit dem Inhalator kämpften. Sie atmete tief ein, und ihre runden Augen wurden noch größer, sodass er rings um die Pupillen das Weiße sehen konnte. Sie starrte Josh entgegen, der langsam zurückkam.
«Er sagte … Josh sagte doch … er sagte doch, dass der Bus immer zu spät kommt, er sagte, wir hätten noch Zeit für einen Milchshake … Ich bin ja so was von erledigt … meine Mutter denkt, ich würde babysitten …» Vor lauter Panik waren ihre bleichen Augenbrauen an ihrer Stirn emporgeklettert und versteckten sich jetzt hinter ihrem blonden Pony.
«Schhht, Chelle», sagte Ryan so besänftigend wie er nur konnte. Aber es nutzte nichts. Chelle ließ sich nicht mit einem einfachen «Schhht» wieder auf Kurs bringen.
«Aber … Josh macht es ja nichts aus, von ihm erwartet man ja, dass er sich in Schwierigkeiten bringt. Aber ich … ich weiß nicht mal, wie es ist, Ärger zu haben …»
«Schhht!», wiederholte Ryan jetzt energischer. Josh war fast schon in Hörweite. Jedes Mal, wenn Josh etwas angestellt hatte und deswegen ein schlechtes Gewissen bekam, wurde er auf Gott und die Welt wütend. Und er konnte boshaft werden, auf eine irgendwie spielerische Art. Ryan hatte keine Lust, mit einem wütenden Josh in Magwhite festzusitzen.
Eigentlich durften sie überhaupt nicht in Magwhite sein.
Magwhite war ein «Beinahe»-Ort. Durch die riesigen Kraftstoff-Lager und die Eisenbahnlinie war es beinahe ein Teil von Guildley. Die strahlend gelben Rapsfelder, die sich nach Osten erstreckten, gaben dem Ort beinahe etwas Ländliches. Die traurig wirkenden Reihen kleiner Häuser, der winzige Supermarkt und das Fahrradgeschäft waren beinahe so etwas wie ein Dorf. Die kleinen Spazierwege waren beinahe hübsch.
Dort war irgendwann einmal jemand erstochen worden oder vielleicht hatte irgendwann einmal irgendjemand einen abgeschnittenen Finger mit einem Ring daran auf einem der Wege gefunden oder vielleicht kamen alle Spieler des Rugby-Vereins regelmäßig zum Bach und pinkelten von der Brücke aus ins Wasser. Keiner wusste so recht, was genau geschehen war, aber irgendetwas