Wunsch Traum Fluch. Frances Hardinge
wo der Rasen des Spielfeldes zu schlammig war, um darauf Fußball zu spielen, und die Gullys von fauligem Laubschlamm verstopft wurden, kannte Josh aus irgendeinem Grund seinen Namen und sprach ihn unbefangen an.
Und dann, als die Zeit für den Heuschnupfen wieder gekommen war, schienen sie unerklärlicherweise Freunde geworden sein. Ryan wurde sich eines Tages darüber klar, als er kopfüber an einem Klettergerüst hing, das in der Ecke des Schulhofs stand. Josh hing neben ihm, und Ryan erzählte ihm von der Frau mit den umgedrehten Augen. Davon hatte er noch nie jemandem erzählt.
Ryan besaß ein Buch über optische Täuschungen. Auf einer Seite war das auf dem Kopf stehende Gesicht einer Frau abgebildet. Es sah so aus, als ob sie hübsch sei und lächelte – bis man das Bild andersherum drehte. Dann bekam man einen Schock, wenn man erkannte, dass das Bild so arrangiert war, dass Augen und Mund nun die Plätze getauscht hatten. Das Lächeln war nur dann ein Lächeln, wenn das Buch richtig herum lag. Falsch herum zeigte sich das Ding, das ein Lächeln gewesen war, als ein schreckliches, verkrampftes Stirnrunzeln aus zusammengepressten Zähnen, und ihre Augen waren verkehrt herum.
Josh war der einzige Mensch, dem Ryan anvertraute, wie sehr ihn dieses Bild verstört hatte. Es hatte ihm gezeigt, dass die Dinge ganz plötzlich fremd und furchterregend werden konnten, wenn man sie aus einem neuen Blickwinkel betrachtete. Von da an war es ihm wichtig, die Dinge auf so vielfältige Art zu begutachten wie möglich, damit er auf alles vorbereitet war.
Als Ryan Josh davon erzählte, war er sich über zweierlei klar geworden. Erstens: Josh würde sein Geheimnis nicht verraten und niemanden aufstacheln, sich wegen der umgedrehten Augen über ihn lustig zu machen. Zweitens: Josh hatte ein ehrliches Interesse an dem, was Ryan erzählte. Hin und wieder lachte er, wenn Ryan erklärte, dass umgedrehte Zypressen so aussahen wie ein Schwall grüne Flüssigkeit, die aus einem Loch in einem Feld gegossen wird, und dass man, wenn man sich auf dem Kopf stehende Menschen vorstellte, automatisch denken musste, dass sie bestimmt klebrige Füße hatten – genauso wie Fliegen –, weil sie ansonsten in den Himmel fallen würden. Er hatte gelacht, und dann hatte er Fragen gestellt und über die Antworten nachgedacht.
«Cool», hatte er schließlich gesagt.
Josh konnte begreifen. Allein dafür betete Ryan ihn an. Und wenn Josh gelegentlich «umgedrehte Augen» erwähnte, dann fing er Ryans Blick ein, um ihm zu versichern, dass er sich nicht über ihn lustig machte, dass es ein Geheimnis war, das nur ihnen beiden gehörte. Dann stieg in Ryan ein warmes, unbehagliches, merkwürdig nervöses Gefühl von Stolz auf.
Er stand auf und schwankte leicht, als ihm das Blut aus dem Kopf nach unten in seinen Körper rauschte. Er tapste zum Haus zurück und tastete sich zum Badezimmer.
«Ryan!» Seine Mutter hatte offenbar das Knarren der Stufen gehört. «Im Bad stehen Töpfe mit heißem Kaffee. Sei vorsichtig, Liebling.»
Der Übertopf mit dem Weihnachtsstern-Muster, der immer im Badezimmer stand, wenn er nicht gebraucht wurde, war auf eine schlanke Blumensäule mit Löwenfüßen platziert worden. Sie war so zierlich, dass Ryan ohne den Schatten eines Zweifels wusste, dass er sie eines Tages umwerfen und alles zerbrechen würde. Es kam ihm so unfair vor, dass er sich wegen etwas schuldig fühlen musste, das er noch nicht einmal angestellt hatte. Sehr behutsam machte Ryan einen Bogen um den Ständer und tastete auf dem Fenstersims nach dem Behälter mit seinen Kontaktlinsen.
Der Spiegel war mit Kaffeedampf beschlagen, und Ryan konnte sein Gegenüber nur geisterhaft erkennen. Der Spiegel-Ryan streckte den Kopf vor und versuchte, besser zu sehen. Er holte die erste Kontaktlinse aus dem Behälter, bog sie ein paar Mal hin und her, um festzustellen, welche Seite aufs Auge gehörte, und balancierte sie dann auf der Spitze seines rechten Zeigefingers.
Ryan streckte den freien Arm aus und wischte mit seinem Ärmel einen Glasbogen frei. Ein Streifen von jenem anderen Ryan wurde sichtbar, wenn auch immer noch verschwommen. Es kam Ryan fast so vor, als ob in dem Raum im Spiegel mehr Dampf waberte als im eigentlichen Badezimmer, und wieder kam ihm kurz sein Traum in den Sinn. Er wehrte die Erinnerung ab und riss das Auge auf, während er das Gesicht zur Hand neigte und die harte Fremdartigkeit der Kontaktlinse auf seinem Augapfel spürte. Er richtete sich auf, versuchte, nicht das Gesicht zu verzerren, und sah – einen Moment lang – aus diesem einen Auge klar und deutlich sein Spiegelbild. Er keuchte auf.
Der Ryan, den er in dem freigewischten Teil des Spiegels sehen konnte, hatte beide Augen geschlossen. Die Wimpern waren dunkel und schwer vor Feuchtigkeit, und aus den geschlossenen Augen flossen Tränen über sein Gesicht. Die Augenlider, sowohl die unteren wie auch die oberen, zitterten, als ob sie darum kämpfen würden, sich öffnen zu können – oder als ob sie hofften, geschlossen bleiben zu dürfen. Dann fingen beide Augen an, sich zu öffnen, und schmutziges Wasser floss zwischen den Lidern hervor und warf Blasen auf den Wangen.
Ryan machte einen Satz rückwärts, stieß mit den Kniekehlen gegen den Badewannenrand und verlor das Gleichgewicht.
Drei Stunden nach der Sache mit dem Spiegel versuchte Ryan, Josh anzurufen. Aber irgendetwas stimmte mit dessen Anschluss nicht, und daher rief er stattdessen Chelle an.
«Hallo?» Chelles Stimme klang am Telefon noch höher und piepsiger als sonst.
«Hallo, Chelle.» Ihr musste man die Wahrheit immer schonend beibringen. «Chelle, ich habe die Blumensäule zerbrochen. Es ist aber nicht so schlimm, weil ich gleichzeitig umgekippt bin und mir den Kopf angestoßen und die Hand an einem heißen Kaffeetopf verbrannt habe, deshalb war mir niemand wirklich böse.»
Im Gegenteil: Statt Ryan wegen seiner Ungeschicklichkeit auszuschimpfen, war seine Mutter wütend auf sich selbst. Eine ganze Weile hatte sie davon gesprochen, Ryan persönlich in die Notaufnahme zu bringen. Den Leuten von der Zeitung würde sie entweder absagen, oder Ryans Vater sollte ihnen ausrichten, dass sie eine Rabenmutter war, die ihr eigenes Kind bei lebendigem Leib in der Badewanne verbrühte. Aber als Ryan den Ausdruck von Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Mutter sah, hatte er sie natürlich davon überzeugt, dass die Brandwunde nicht so schlimm war. Er hatte sich selbst für seine Tapferkeit beinahe bewundert. Schließlich hatte sie nachgegeben und den Interviewtermin nicht abgesagt.
«Hör mal, Chelle», fuhr Ryan fort, «meinst du, ich könnte heute Nachmittag zu dir kommen? Und könntest du Josh bitte auch Bescheid sagen?» Die Sache mit dem Spiegel war etwas, das er von Angesicht zu Angesicht besprechen wollte. Chelle fragte ihre Mutter und kam gleich darauf wieder zum Telefon.
«Sie sagt, ich darf. Sie meint, dann würde ich wenigstens nicht im Weg herumstehen, wenn Miss Gossamer kommt.»
Miss Gossamer war eine Freundin von Chelles Großmutter gewesen. Nachdem Chelles Großmutter still und in aller Ruhe aus dem Leben getreten war, war Miss Gossamer still und in aller Ruhe in Chelles Familie eingetreten. Ryan fand, dass Chelles Eltern sich sehr großherzig verhielten, aber irgendwie kam es ihm merkwürdig vor, wie in einem dieser Träume, wo ein vertrautes Gesicht von einem unbekannten Antlitz ersetzt wird, ohne jede Erklärung. Und obwohl Chelle nie ein Wort darüber verlor, war sich Ryan sicher, dass sie genauso empfand.
Ryans Mutter fühlte sich immer noch schuldig wegen des Kaffee-Unfalls, sodass sie ihn zu Chelle fuhr, anstatt ihn durch den Park laufen zu lassen.
Chelle wohnte in einem Reihenhaus – einem von vielen – mit hohen, schmalen Fenstern und breiten, tiefen Fensterbänken, die sich wunderbar als Katzenbalkone eigneten. Wie viele ältere Häuser hatte auch dieses ein Souterrain. Von einem kleinen Vorplatz vor dem Haus führten zwei Stufen zur Haustür hinauf und ein halbes Dutzend zum Tiefparterre hinunter.
Die beiden untersten Fenster gehörten zum Souterrain und lagen unterhalb des Straßenniveaus. An einem sah Ryan Chelles Gesicht. Sie lächelte und winkte ihm zu. Gleichzeitig öffnete sich die Haustür.
«Hallo Ryan», sagte Chelles Mutter, ohne ihn wirklich zu beachten. Stattdessen schaute sie zum Auto seiner Mutter. «Kommt deine Mutter nicht auf ein Tässchen Tee herein?»
«Sie