Alles aus Neugier. Georg Markus
Wo immer ich hinkam, hatte ich ein offenes Ohr für heitere Geschichten, die mir von Künstlern, Politikern und Angehörigen ganz anderer Berufsgruppen erzählt wurden. Nach einem Vierteljahrhundert hatte ich so viele beisammen, dass ich das Buch Die Enkel der Tante Jolesch schrieb. Die Enkel spielen in einer ganz anderen Zeit, als es die von Torberg war, sollten die Leser aber ebenso zum Lachen wie zum Nachdenken bringen. Hier einige Beispiele daraus.
Eine der ersten Geschichten wurde mir von einem Schauspieler zugetragen, der mir von einem alten Herrn erzählte, der jahrzehntelang ein Leben als Statist fristete. Das ist keine leichte Aufgabe: Während sich die Bühnenstars im Applaus sonnen, darf der Komparse gerade einmal ein Silbertablett abstellen und dann wieder abgehen.
Eines Tages hatte der Regisseur des Theaters Mitleid mit dem Statisten und ließ ihn im nächsten Stück ein paar Worte sprechen. Es waren drei Worte, mit denen er als Kammerdiener die Ankunft eines adligen Gastes ankündigen sollte: »Herr Marquis Dobinier!« lautete sein Text.
Doch die Aufregung war zu groß, der alte Mann verhedderte sich ständig, brachte vor allem das schwierigste der drei Wörter, »Dobinier«, nicht über die Lippen.
Der Regisseur versuchte während einer Probe zu helfen: »Sie sind doch Wiener? Merken Sie sich einfach: Do bin i eh.«
Der zum Schauspieler avancierte Statist nahm sich den Ratschlag zu Herzen. Sagte aber am Abend auf der Bühne: »Herr Marquis, i bin eh do!«
Ja, es gibt sie, die Tante Jolesch, sie lebt in ihren Enkeln weiter, die ihr an Witz und Esprit um nichts nachstehen. Während Friedrich Torberg die echte Tante Jolesch vermutlich nie kennengelernt hat, bin ich »meiner« Tante Jolesch sehr wohl begegnet, mehr noch, sie war eine echte Tante von mir. Meine Tante Jolesch hieß Flora, und sie war eine der beiden älteren Schwestern meiner Mutter.
Tante Flora hat dieser Welt in ihrem langen Leben einige Aussprüche hinterlassen, die die Tante Jolesch durchaus für sich reklamieren hätte können. Ehe ich sie zitiere, muss ich auf einen weiteren Verwandten, meinen Onkel Franz, zu sprechen kommen, der im alten Österreich-Ungarn zur Welt kam, den Großteil seines Lebens aber in den USA verbrachte. Onkel Franz hat in Hollywood unter dem Namen Francis Lederer eine beachtliche Karriere als Filmschauspieler gemacht – und dort im November 1999 in erstaunlicher Frische seinen 100. Geburtstag gefeiert.
Die ganze Familie sollte sich zu diesem besonderen Anlass in Los Angeles einfinden. Als ich Tante Flora vom bevorstehenden Wiegenfest ihres Cousins informierte, kommentierte sie das mit den Worten: »Was, der Franz wird 100? Dabei ist er doch gar nicht vom langlebigen Teil unserer Familie!«
Mir selbst ist auch schon so manches widerfahren, das Tante-Jolesch-artige Züge aufzuweisen hatte. Auf den Seiten 109–122 dieses Buches erfahren Sie, wie ich dazu kam, den Grabraub der Mary Vetsera aufzudecken. Und dass ich, ehe ich die Geschichte veröffentlichte, bei der Polizei Anzeige gegen unbekannt erstattete. Ich erzählte den anwesenden Polizeibeamten von Herrn Flatzelsteiner und seiner Vermutung, dass sich Mary Vetseras sterbliche Überreste nicht dort befänden, wo sie hingehörten.
Plötzlich stand ein junger Kriminalbeamter auf, um das Zimmer zu verlassen und nach wenigen Minuten mit einer Fahndungsliste in den Händen zurückzukehren.
»Herr Markus«, sagte er, »das ist ja alles schön und gut, was Sie uns da erzählen. Aber ich habe gerade im Polizeicomputer nachgeschaut: Eine Mary Vetsera ist gar nicht als abgängig gemeldet.«
Die nächsten beiden Geschichten handeln von Karl Farkas, für den ich ein Jahr lang am Kabarett Simpl arbeiten durfte. Er verkehrte, wie er mir anvertraute, Anfang der 1920er-Jahre als noch mittelloser Schauspieler im Café Central. »Wir Jungen, die kein Geld hatten, kamen gleich nach dem Mittagessen ins Café Central, haben unzählige Gläser Wasser und Zeitungen konsumiert, bis vier Uhr Nachmittag saßen wir dort und dann sagten wir zum Ober: ›Jean, reservieren Sie mir meinen Sessel, ich geh nur rasch nach Hause einen Kaffee trinken.‹«
Hier sei auch etwas Persönliches von Karl Farkas erzählt. Ich war in der Saison 1969/70 – das Wort Assistent ist etwas übertrieben – so eine Art Mädchen für alles am Simpl, zuständig für Kulissen und Bühnenbild und nach einiger Zeit durfte ich auch Schreibund Assistenzarbeiten für Farkas erledigen.
Er suchte immer jemanden, der ihn nach der Vorstellung, oft war das schon gegen Mitternacht, nach Hause fährt, um sich das Taxi zu ersparen. Ich durfte das mit meinem uralten Ford Taunus etliche Male tun; in den meisten Fällen lieferten ihn aber seine Kollegen Maxi Böhm oder Ossy Kolmann vor seinem Wohnhaus im 7. Bezirk ab.
Nach einer Vorstellung, es war Samstagabend, hatte aus irgendwelchen Gründen keiner aus dem Ensemble Zeit, Farkas nach Haus zu fahren, und da bot sich Herr Stern, der Schwiegersohn des Simpl-Besitzers Picker, als Fahrer an.
Farkas stieg in den Wagen, und Herr Stern fragte: »Wohin fahren wir?«
»Geben Sie Gas«, antwortete Farkas, »ich sag’s Ihnen schon … Da vorne fahren Sie rechts … jetzt geradeaus über die Kreuzung drüber … hier biegen Sie links ein …«
Weit draußen am Stadtrand, bei der Spinnerin am Kreuz, fragte Herr Stern: »Entschuldigen Sie, Herr Farkas, ich dachte, Sie wohnen in der Neustiftgasse im 7. Bezirk!«
»Ja, das stimmt«, ließ sich Farkas nicht aus der Fassung bringen. »Aber am Samstag fahre ich immer in mein Wochenendhaus nach Edlach an der Rax.«
Zu meinen Informanten in Sachen Enkel der Tante Jolesch zählte auch Marcel Prawy, den ich nicht nur als klugen, gebildeten, menschlich wertvollen Freund in Erinnerung behalten habe, sondern auch wegen seines einzigartigen Humors. Und so erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte, in der er selbst mitspielt. Prawy und der Kritiker Hans Weigel waren zeitweise gar nicht gut aufeinander zu sprechen. Das muss man wissen, um die folgende Episode, die sich Ende der 1950er-Jahre im Café Volksoper zugetragen hat, verstehen zu können.
Als Weigel dort eines Abends neben der Schauspielerin Louise Martini saß, betrat ein stattlicher Herr das Lokal und grüßte sehr höflich – zuerst Louise Martini und dann Hans Weigel. Worauf die beiden den Gruß ebenso höflich erwiderten.
Kaum war der stattliche Herr außer Sichtweite, fragte Weigel – der extrem kurzsichtig war und daher oft gleichzeitig mehrere Brillen auf Stirn und Nase platziert hatte –, Weigel also fragte seine Tischnachbarin, wer der Herr gewesen sei, den sie gerade gegrüßt hätten.
»Das war der Prawy«, antwortete Louise Martini.
Kaum hatte Weigel diese Auskunft erhalten, begann er aufgeregt in seiner Aktentasche nach irgendwelchen Papieren zu suchen. Als er sie endlich gefunden hatte, sprang er auf und lief Prawy nach. Sobald er ihn eingeholt hatte, hielt er diesem die mitgebrachten Unterlagen vors Gesicht und sagte:
»Das sind ärztliche Atteste, die bescheinigen, dass ich schlecht sehe. Nur so konnte es passieren, Herr Doktor Prawy, dass ich Sie gegrüßt habe.«
Sprach’s und ging – diesmal selbstverständlich grußlos – zurück an seinen Tisch.
Auch unter den Sängern der Wiener Staatsoper findet sich manch unvergleichliches Original. So gab es einen Episodisten namens Alfred Muzzarelli, der sein Leben lang »auf Star studierte«, ohne je einer geworden zu sein. Muzzarelli war trotz seines italienisch klingenden Namens ein waschechter Wiener. Er liebte die Frauen, wobei ihm Augen, Haarfarbe und Figur weniger bedeutsam erschienen, als das eine nur: Sie mussten wesentlich älter sein als er! Als ihm eines Tages ein Kollege, den Tränen nahe, mitteilte, dass ihn die Freundin verlassen hatte, fand Muzzarelli tröstende Worte: »Mach dir nix draus, andere Töchter haben auch schöne Mütter!«
Ioan Holender ist als längstdienender Direktor in die Geschichte der Wiener Staatsoper eingegangen. Im ersten Jahr stand er jedoch im Schatten des eigentlichen Direktors Eberhard Waechter. Erst nach dessen plötzlichem Tod im März 1992 übernahm Holender die alleinige Leitung des Hauses. Aber bis dahin war er selbst im Opernhaus bei Weitem nicht so bekannt wie später.
Der Zuschauerraum war bereits abgedunkelt, als Holender eines Abends zu spät in eine Vorstellung kam. Die Ouvertüre hatte schon begonnen, da schlich der Co-Direktor