Die blauen Flügel. Jef Aerts
das letzte Stück hinunter.
Jadran stand bereits im Eingangsflur und wartete auf mich, stolz wie ein Pfau.
Vor unserem Haus war ein Beet mit Kamelien. Sofort fing Jadran an, mit dem Kochlöffel darin zu graben. Erdklumpen flogen herum. Wir klaubten Asseln, Tausendfüßer und Regenwürmer aus dem welken Laub. Unter einer losen Gehwegplatte entdeckte Jadran jede Menge Käfer. Schon bald wimmelte es in unserem Glas von Tierchen.
Aber als wir wieder ins Haus wollten, war die Tür zu, und wir hatten keinen Schlüssel mitgenommen.
Jadran klingelte Sturm.
»Ja?«, knarzte es aus der Gegensprechanlage.
Über den Klingelknöpfen befand sich nicht nur ein Lautsprecher, sondern auch eine Kamera. So konnte Yasmin oben in der Wohnung auf einem kleinen Bildschirm sehen, wer vor der Tür stand.
»Wir können nicht rein!«, rief ich.
Jadran drückte seine Nase an die Kamera.
»Geh mal ein Stück zurück, dann kann ich euch besser sehen«, sagte Yasmin.
»Tirie hat Hunger.«
»Ihr seid dreckig.« Es klang nicht freundlich, und das war es auch nicht.
»Mach auf!« Ich versteckte meine schwarzen Finger hinter dem Rücken.
Jadran hielt stolz das Glas mit den wimmelnden Tierchen in die Höhe.
Das machte keinen Eindruck auf Yasmin. »Du hast deine Jacke verkehrt zugeknöpft«, sagte sie zu ihm.
Er ließ das Glas sinken und schaute auf seinen Bauch.
»Lass ihn!«, zischte ich. »Das ist doch jetzt nicht wichtig!«
»Und bei dir sind die Haare total zerzaust.«
Ich knöpfte Jadrans Jacke auf und wieder richtig zu. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. »So besser?«
Yasmin lachte lauthals, wie über einen guten Witz. Es klickte, und die Haustür ließ sich öffnen.
Ich fand es grausig, lebende Würmer an Tirie zu verfüttern. Sie zappelten in seinem Schnabel. Einen Tausendfüßer biss er mittendurch, ehe er ihn auffraß. Jadran setzte einen Käfer mit glänzendem Schild auf seine Handfläche und ließ ihn dann vor Tirie auf den Boden taumeln. Kein Tierchen bekam die Chance zu entwischen.
Nach zwanzig Insekten und Würmern machte Tirie einen sichtlich zufriedeneren Eindruck. Er plusterte sein Gefieder auf, krallte die Füße in die Decke und hielt ein Schläfchen.
Jadran ahmte ihn nach. Er stellte sich auf ein Bein und zog den Hals ein.
»Weck mich, wenn Mama kommt«, sagte er.
»Soll ich dir ein paar Würmer bringen?«, fragte ich.
Aber Jadran hatte bereits mit seinem Kranichschlaf begonnen.
Auf Zehenspitzen schlich ich wieder in die Wohnung.
Murad und ich spielten Flying Zombies. Ich hämmerte auf die Tastatur ein und hatte schon zehn Zombies zur Strecke gebracht, ehe Murad auch nur einen Mausklick machen konnte.
»Der letzte gehört dir«, sagte ich.
Murad ließ die ganze Zombiestadt hochgehen.
»Das sollten wir öfter machen«, sagte er.
Jadran mochte die neuen Bettbezüge nicht, die Mama gekauft hatte. Schon ihr Geruch machte ihn unruhig. Er musste davon niesen und trat die Bettdecke von sich.
»Komm«, flüsterte ich und klopfte neben mir auf die Matratze.
Jadran schob sein Kopfkissen an meines und rutschte ganz nah zu mir.
Ich bekam kein Auge mehr zu, er dagegen schnarchte sich selig durch die Nacht.
Am nächsten Morgen brachten wir Tirie seinen Namen bei.
»Tirie«, krächzte Jadran. Er war jetzt der Kranichpapa und warf ein paar Körner auf den Boden.
Schon bald kam der Vogel zu uns, wenn wir seinen Namen sagten. Weil er noch nicht rufen konnte wie ein erwachsener Kranich, antwortete er mit einer Art Jammerlaut.
Triririri trrrrie.
»Tirie! Tirie!«
Es machte Spaß, gemeinsam mit Jadran den Vogel zu zähmen. Mein Bruder hatte lange keine so gute Laune mehr gehabt. Als Tirie zum ersten Mal ein Stück Brotrinde aus seiner Hand nahm, strahlte er. Und darum erlaubte Mama auch, dass der Kranich noch ein Weilchen blieb. Seine Wunde heilte gut. Ein paar Tage noch, dann könnten wir ihn zurück zum See bringen.
Es dauerte nicht lange, und Tirie hüpfte hinter uns her. Wenn Mama gerade nicht in der Nähe war, öffnete Jadran die Balkontür und stolzierte zusammen mit dem Vogel durch die Wohnung. Ich gab ihm Hinweise, wie er Tiries Bewegungen am besten nachahmen konnte: den Hals recken, den Bauch einziehen und auf Zehenspitzen trippeln.
Nur fliegen konnte Tirie noch nicht. Das heißt, er machte keinerlei Anstalten dazu. Er versuchte nicht einmal, seine Flügel auszubreiten.
»Wir müssen’s ihm beibringen«, sagte Jadran.
»Wir können nicht fliegen«, wandte ich ein. »Wie soll man jemandem etwas beibringen, das man selber nicht kann?«
»Wenn man ganz fest will, kann man alles.«
Das hatten sie ihm natürlich im Freiraum, seiner Spezialschule, eingehämmert. Dort wurde er mit Lob und Tipps überschüttet. Jadran hatte es richtig gut drauf, die Sätze der Betreuer ständig zu wiederholen.
»Wir sind viel zu schwer«, sagte ich.
Jadran warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Wir brauchen Flügel!«
Damit meinte er nicht etwa selbst gebastelte Flügel aus Papier oder Karton. Er wollte große Flügel mit echten Federn. Er wollte Mamas blaue Flügel.
Die hatte sie getragen, als sie noch mit Papa in Musicals auftrat. Sie waren nach Maß angefertigt worden.
Aber seit Papa fort war, wollte sie nichts mehr von ihnen wissen.
Jadran war schon auf dem Weg in die Diele, um den Schlüssel zu holen, der über dem Schuhschrank hing. Denn die Musicalkostüme befanden sich im Keller. Und dort durfte Jadran nicht allein hin, das sah ich genau wie Mama. Also musste ich ihn davon abhalten. Oder mitgehen.
Mama selbst ging ungern in den Keller. Dort sei es wie in einer Zeitmaschine, sagte sie. Ehe sie sich’s versehe, hätte sie den falschen alten Karton aufgemacht und sei in einem früheren Leben gelandet. Einem früheren Leben, von dem sie glaubte, es beinahe vergessen zu haben.
Ich steckte den Schlüssel ein und ging vor Jadran her die Treppe hinab bis ganz nach unten.
Im Kellergeschoss roch es nach Schimmel und Mottenkugeln. Links und rechts gingen viele Metalltüren ab, aber ich wusste genau, welches unsere war.
Der kleine Kellerraum war bis an die Decke voll mit Kisten, Kartons, Stapeln von vergilbtem Papier und Sachen wie aus dem Secondhandladen. Ganz hinten befand sich ein Ständer, an dem große schwarze Kleidersäcke hingen.
»Wir hätten Mama erst fragen sollen«, sagte ich.
Aber Jadran ging bereits strahlend auf den Kleiderständer zu. Mamas Musicals hatte er immer toll gefunden. Bevor sie und Papa auseinandergingen, war er oft bei Aufführungen dabei gewesen. Er hatte hinten im Saal gesessen und alle Lieder mitgesungen. Sogar die Dialoge hätte er auswendig gekonnt, behauptete Mama, auch wenn er sie nur halb verstand.
Jadran ließ seine Finger über die Bügel gleiten.
»Weißt du, wo sie drin sind?«, fragte ich.
Er zögerte kurz und griff dann nach einem Kleidersack, der sich ziemlich ausbeulte.
Ich