Die blauen Flügel. Jef Aerts

Die blauen Flügel - Jef Aerts


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Moment gewartet. Jadran nahm die Flügel ganz aus der Hülle, lief damit durch den Gang zur Kellertür und hielt sie unter die Lampe.

      Sie waren blau gefärbt, im schönsten Blau, das ich je gesehen hatte. An einem Gestell aus Draht waren viele Hundert echte Federn festgenäht. Ellenlange Schwungfedern, glänzende Deckfedern und an der Unterseite seidenweiche Flaumfedern. Jadran blies den Staub von den Flügeln. Er steckte eine Hand in die dicke Federschicht und glättete sie dann wieder. Anschließend nahm er die Flügel auf seinen Rücken und schob die Arme durch die Lederschlaufen.

      Es war ein seltsamer Anblick: mein baumlanger Bruder mit den anmutigen Flügeln. Aber irgendwie standen sie ihm. Ich schnallte die schmalen Riemen um seine Handgelenke. Wenn er nun die Arme auf und ab bewegte, konnte er richtig flattern. Das tat er prompt.

      Jadran flog vor mir her die Treppen hinauf. Oben rauschte er durch die Diele ins Wohnzimmer. Ich konnte kaum schnell genug alles Zerbrechliche in Sicherheit bringen.

      »Aber Kinder, was soll das denn?« Beim Anblick der Flügel sprang Mama von ihrem Stuhl auf. Das Messer, mit dem sie Gemüse putzte, landete klirrend auf dem Boden.

      »Ich bringe sie nachher wieder runter«, beeilte ich mich zu sagen.

      Aber Mama hörte mich nicht. Mit großen Augen starrte sie Jadran an, der jetzt flügelschlagend am Balkonfenster stand.

      »Auf und ab!«, rief er.

      Bei jedem Flügelschlag bewegte Mamas Kopf sich hin und her, als wollte sie eine böse Erinnerung herausschütteln. Dann bückte sie sich nach dem Messer und schnitt weiter Brokkoli.

      Der Vogel sah Jadran durch die Scheibe an.

      »Gib ihm etwas zu fressen«, sagte ich. »Dann lernt er, dass Fliegen etwas Gutes ist.«

      Und so begann die erste Übungsstunde. Jadran machte vor, was Tirie tun sollte, und ich gab ihm jedes Mal, wenn er seine Flügel ein wenig anhob, einen Käfer. Auf der Seite mit der Wunde ging es langsamer, aber der Flügel bewegte sich mit.

      »Hopp!«, rief Jadran.

      Happ, machte Tirie.

      Yasmin trat in die Balkontür. Ihr Pony hing über den oberen Rand der Brille.

      »Willst du auch mal probieren?«, fragte Jadran. »Du bist ein schöner Mamavogel, Yassi.« Mit nach hinten gerecktem Po als buschiges Schwanzgefieder trabte er vor ihr auf und ab.

      »Ihr tickt wohl nicht richtig? Schwachköpfe seid ihr, alle beide!« Yasmin wich zurück und warf die Balkontür zu.

      »So was sagt man nicht, Yasmin!«, rief Murad, der mit seiner Stoffhose in der Hand am Bügelbrett stand. »Entschuldige dich bei ihnen!«

      Aber Yasmin sagte weder Entschuldigung noch sonst etwas.

      Jadran ließ die Flügel sinken. »Sind sie denn nicht schön?«

      »Doch, Riese. Sie sind wunderschön.«

      Drinnen lief Murad hinter Yasmin her, um sie zusammenzustauchen. Schwachköpfe seien wir, hatte sie gesagt. Alle beide. Das klang schlimm. Und es stimmte überhaupt nicht. Trotzdem fühlte ich mich auf eine seltsame Art erleichtert. Yasmin zumindest machte keinen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir.

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      Hinter unserem Wohnblock war eine Wiese. Dorthin wollten wir mit Tirie. Weil es mit dem Flattern immer besser ging, fand ich, es wäre jetzt an der Zeit, im Freien mit ihm zu üben. Jadran ging mit den Flügeln auf dem Rücken zum Lift und klapperte mit der Futterdose, damit Tirie uns folgte. Für jedes Stockwerk bekam der Kranich einen Wurm. Die ganze Zeit starrte er die aufleuchtenden Zahlen an.

      Im dritten Stock hielt der Lift. Rasch bugsierte ich Tirie in eine Ecke und stellte mich mit Jadran wie eine Mauer vor ihn. So hatten wir es abgemacht, denn keiner durfte wissen, dass wir einen Kranich dabeihatten.

      Frau Rafaelis stieg mit ihren Zwillingen an der Hand ein.

      »Guten Morgen«, sagte Jadran übertrieben freundlich und versuchte unterdessen, den Vogel mit seiner weiten Hose zu verdecken. »Wie geht’s Ihnen?«

      Frau Rafaelis lachte, ihre Mädchen dagegen guckten ängstlich den geflügelten Riesen an, der den halben Lift einnahm.

      »Uns geht’s prima, Jadran. Und euch?«

      Frau Rafaelis mochte meinen Bruder gern. Sie arbeitete in der Apotheke und schenkte ihm manchmal Zahnpastapröbchen, solche Minituben mit neuen Geschmacksrichtungen.

      »Prima, danke!« Jadran grinste breit, damit sie sehen konnte, dass die Zahnpasta etwas nützte.

      Tirie rieb sich an meiner Jeans. Ich kam fast um vor Nervosität.

      »Ihr habt jetzt bestimmt viel zu tun nach dem Einzug von Murad. Scheint ein netter Mensch zu sein. Und eine hübsche Tochter hat er auch. Ist sie nicht ungefähr so alt wie du, Josh?«

      Ping!, machte der Lift.

      Die Mädchen drängelten, weil jede als Erste rauswollte.

      »Die Flügel stehen dir prächtig«, sagte Frau Rafaelis noch zu Jadran. Sie tat, als hätte sie Tirie nicht gesehen.

      Wir warteten, bis sie weg waren. Dann folgte Tirie Jadran wie ein Hündchen in den Eingangsflur. Er rutschte auf den glatten Fliesen aus, rappelte sich wieder auf und hüpfte dann mit uns ins Freie.

      »Brav, Tirie. Komm, komm!«

      Ich ging voraus, um nachzusehen, ob auch niemand auf der Wiese war.

      »Die Luft ist rein!«, rief ich um die Hausecke.

      Jadran ging jetzt nicht mehr krumm, sondern stolzierte mit erhobenem Kinn über den Betonstreifen, der um den Block herumlief. Ich kam mir noch kleiner vor als sonst.

      Jadran gab mir die Futterdose und stieg auf eine Holzbank.

      »Kru kru kru!«, tönte er und breitete die Flügel aus.

      Tirie pickte an einem Klecks Mayonnaise neben dem Abfalleimer herum.

      »Weg da! Davon wirst du krank!« Ich versuchte, den Vogel zur Bank hin zu scheuchen, aber das klappte nicht, weil er als Nächstes eine feuchte Brotrinde erspähte.

      Jadran ließ sich nicht verdrießen. »Schau zu, wie ich’s mache!«, rief er, sprang von der Bank und rannte mit ausgebreiteten Flügeln über das Gras.

      Tirie floh, so schnell er konnte, in die Gegenrichtung.

      Jadran nahm im Sturzflug die Verfolgung auf.

      »Halt!«, schrie ich.

      Aber dieses Wort verstand der Kranichpapa nicht. Mit seinen langen Stelzen sauste er zum Fahrradschuppen und trieb dort sein Junges in eine Ecke.

      »Los! Du kannst das! Du kannst das!«, rief er. Genau so wie seine Betreuer im Freiraum.

      Tirie zitterte wie Espenlaub. Gleich haut er ab, dachte ich, und in der Stadt ist er verloren. Also musste ich etwas tun.

      Ich stellte mich hinter Jadran und versuchte, seine Arme nach unten zu ziehen.

      Er spannte die Muskeln an.

      »So machst du ihm nur Angst«, sagte ich.

      »Er muss fliegen! Seiner Familie nachfliegen!«

      »Schon, aber du bist zu schnell.« Ich presste mich an seinen Rücken und strich ihm so lange über die Schultern, bis er zu flattern aufhörte. »Das ist genau wie beim Atmen, Riese«, sagte ich. »Du musst es in seinem Tempo machen.«

      Mit der Futterdose lockten wir Tirie vom Fahrradschuppen weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn so weit hatten, dass er auf die Bank sprang. Und als er erst einmal oben war, wollte er nicht mehr herunter.

      Jadran schlug unaufhörlich mit den Flügeln. Manchmal bewegte er sich tänzelnd, dann wieder schoss er wie ein Düsenjäger über die Wiese. Aber Tirie hatte


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