Ihr elenden Mörder. Jürgen Löhle

Ihr elenden Mörder - Jürgen Löhle


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Chartres. Die Fahrer des Mannschaftsbusses eines großen Teams, das aus Scham nicht genannt werden möchte, verabschiedeten sich am Start in Amiens und wollten direkt zum Ziel rollen, um da die Profis wieder einzusammeln. Dort kamen sie aber nicht an, weil sie ihrem Navi blind vertrauten und in ein völlig anderes Chartres fuhren, wo sie partout kein Radrennen fanden. Die Profis standen derweil im echten Chartres im Ziel, im Freien, und waren ziemlich angefressen. Man hat sie dann zum Transfer ins Hotel auf andere Teambusse verteilt. Sie waren verschwitzt, hungrig und grantig, aber es half ja nichts. Der Bus kam dann schließlich irgendwann in der Nacht an. Aber natürlich viel zu spät. Das Kuriose daran: Solche Dinge passieren erst, seit es Navigationsgeräte gibt. Früher fuhr man nach dem Streckenplan, der in der Regel im richtigen Zielort endet.

      Riesige Busse für die Mannschaften gehören mittlerweile zu jedem großen Radrennen dazu. Und natürlich auch zur Tour, wobei man oft den Eindruck hat, die Teams überbieten sich in diesem Jahreszentrum des Medieninteresses in Größe und Ausstattung ihrer rollenden Beinahe-Hotels. Ruhepritschen, Massagebänke, überall Fernseher, Duschen, natürlich eine Küche, das alles hinter verspiegelten und getönten Scheiben. Außen sind die Busse immer aufwendiger lackiert und natürlich blitzeblank, damit der Name des Sponsors so hell leuchtet wie die Sonne. Solche Busse kosten mehr als eine halbe Million Euro und sind mittlerweile so groß, dass die Fahrer Millimeterarbeit leisten müssen, um die Ungetüme in den oft verwinkelten und engen Start- und Zielbereichen kleinerer Städte zu parken. Die Tour ist ja nicht nur in Großstädten wie Marseille, Lyon, Bordeaux, Toulouse oder Paris zu Gast.

      2013 startete das Rennen auf Korsika. Die ganze Insel hat deutlich weniger Einwohner als jede einzelne der genannten Großstädte. Der Auftakt war, anders als üblich, kein kurzes Zeitfahren als Prolog, sondern eine ganz normale Etappe von Porto Vecchio nach Bastia. Man erwartete gerade eine Sprintankunft, als sich im Zielort Bastia ein in der Tourgeschichte bisher einmaliges Ereignis zutrug. Der Mannschaftsbus des australischen Teams Orica Greenedge, auch so ein rollendes Einfamilienhaus, hatte weit vor dem Ziel eine Abzweigung Richtung Parkzone verpasst und wurde jetzt von dienstbaren einheimischen Helfern durch die enge Hafenstadt geleitet. Die Helfer schickten den Bus am Ende des ungewollten Umwegs durch den Zielbogen – aber der war ein paar Zentimeter tiefer als der Bus hoch. Kurzum, das Monstrum verkeilte sich, steckte im Zielbogen fest, und das heranrasende Feld war nur noch knapp 20 Minuten entfernt. Die Hektik, die jetzt entstand, hatte schon was. Sollte man die Etappe stoppen und die Wertung ausfallen lassen? Das Ziel mitsamt der Zeitmessung in Windeseile drei Kilometer nach vorn verlegen? Man hat debattiert wie auf einem Basar. Es zeichnete sich bald eine Zielverlegung ab, obwohl man damit Hunderte von Menschen verärgert hätte, die auf der Ehrentribüne im Zielbereich saßen und statt einer Sprinterankunft nur einen eingeklemmten Bus gesehen hätten.

      Ein erfahrener Offizieller behielt allerdings die Nerven. Der Mann ließ einfach die Luft aus den Reifen des Busses, der so ein paar Zentimeter tiefer sank, freikam und auf den Felgen aus dem Ziel schlich. Das Rennen konnte normal zu Ende gehen; Marcel Kittel gewann die Etappe und das Gelbe Trikot. Der Fahrer des Busses saß derweil mit den Nerven zu Fuß neben seinem mittlerweile wieder korrekt geparkten und aufgepumpten Gefährt. Für den spanischen Fahrer Garikoitz Atxa war dies sein erster Arbeitstag bei Orica Greenedge gewesen – aber dann doch nicht sein einziger. Auch die Teamleitung sah ein, dass Offizielle ihn mehrfach aufgefordert hatten, unter dem Bogen durchzufahren.

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      Luft lass nach: Der Mannschaftsbus, eingekeilt im Zielbogen, war der Aufreger beim Grand Départ der Tour 2013 auf Korsika.

      Die verrückten Fans der Tour

      Was wäre die Tour ohne ihre Zuschauer? Richtig, ein ganz normales Radrennen. Man schätzt, dass zwischen zwölf und 15 Millionen Menschen jedes Jahr die im Schnitt rund 3.500 Kilometer lange Strecke säumen und die Tour damit zu einem der größten Sportspektakel weltweit machen. Besonders in den Bergen muss man schon tagelang vorher anreisen, wenn man sein Wohnmobil oder Zelt an einer attraktiven Stelle direkt an der Strecke postieren will. Einer der begehrtesten Plätze, wenn die Tour nach Alpe d’Huez führt, liegt in einer Kurve kurz vor dem Ortseingang, von wo man gut drei Kilometer Straße einsehen kann. Wer dort parkt, oft übrigens eine Familie aus dem Schwäbischen, sollte gut fünf Tage vor dem Rennen da sein. Sonst ist der Platz weg und obendrein die Straße bereits mit Absperrungen von den Almen getrennt.

      Über die Jahre hinweg hat sich bei den Fans mehr und mehr die Mode entwickelt, sich möglichst schrill, skurril oder auch schlicht dämlich anzuziehen und wild brüllend neben den Profis herzuwetzen. Für viele Menschen ist eben die Aussicht auf ein paar Momente live im Fernsehen so ziemlich das Größte, was sie sich vorstellen können. Dafür kann man sich dann schon mal zum Affen machen. Und so rennen Frösche oder Enten oder wandelnde Epo-Spritzen bergauf. Dazwischen Personen mit Bora-Perücke und grüner Trägerunterhose, begleitet von Typen in Badehose und Pudelmütze. Natürlich dürfen auch Halboder komplett Nackte nicht fehlen. Frauengruppen in Bikinis, gern auch ohne Oberteil, gibt es immer wieder. Männer ziehen auch schon mal final blank. Das muss man nicht wirklich gesehen haben, was manche aber nicht daran hindert. Wie zum Beispiel die zwei Herren, die 2009 beim Mannschaftszeitfahren rund um Montpellier neben der Mannschaft Columbia Highroad herrannten. Ob man damit wirklich weltweit ins Fernsehen muss – nun ja, wer’s braucht.

      Die Rennfahrer haben übrigens beim Tempo der heutigen Etappen kaum einen Blick für die Kuriositäten am Rande übrig. Eine Etappe wird heute in den meisten Fällen nach folgendem Motto gefahren: ein paar Kilometerchen bis zum scharfen Start locker rollen, danach treten, bis der Arzt kommt. Zurückhaltung oder lockeres Rollen gibt es mit Ausnahme der ersten zwei, drei Stunden auf der letzten Etappe nach Paris nicht. Nur im Finale wird erst in Sichtweite der Champs-Élysées so richtig Gas gegeben. Der Grund für das durchgängig hohe Tempo: Mittlerweile wird alles im Fernsehen übertragen, und der Sponsor will natürlich Leistung sehen. Außerdem ist ein Etappensieg so wertvoll, dass immer irgendwelche Fahrer einen Ausreißversuch starten. Und wenn in so einer Gruppe nur einer dabei ist, der eine wenn auch noch so kleine Chance im Gesamtklassement hat, kann man den nicht eine halbe Stunde oder mehr wegfahren lassen. Denn das kann sich rächen, wie zuletzt 2006, als der Spanier Óscar Pereiro nach der Disqualifikation von Floyd Landis plötzlich Toursieger war. Der Mann war ganz vorn, weil er auf einer Überführungsetappe von den Pyrenäen in die Alpen in einer Fluchtgruppe um Jens Voigt war, die schließlich gut 30 Minuten vor dem Feld mit allen Favoriten ins Ziel kam (Sieger: Voigt). Ohne diese Bummelfahrt des Feldes wäre übrigens am Ende Andreas Klöden der zweite deutsche Toursieger nach Jan Ullrich geworden.

      Aber, wie gesagt, heute wird anders gefahren, und die Fans am Straßenrand müssen schon verdammt gut zu Fuß sein, wenn sie bergauf neben ihren Idolen mitlaufen wollen. Zur wahren Personifizierung des brüllenden Wahnsinns hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Brandenburger Dieter „Didi“ Senft entwickelt. Der selbst ernannte Künstler, Erfinder und Fahrraddesigner rennt seit 1993 als Teufel verkleidet mit Gebrüll und fuchtelndem Dreizack neben den Rennfahrern her. Anfangs fanden das alle lustig, selbst die Profis. „El Diabolo“ wurde zum Medienstar, die Kameras des französischen Fernsehens setzten ihn immer groß ins Bild, wenn er mit markerschütterndem „Heja, Heja, Jaaaaaaaaa!!!“ neben den Radlern herumtobte, und die Moderatoren freuten sich. Didi schaffte es als Gast in mehr als 50 TV Sendungen, wurde zur Comicfigur und war bekannt wie ein bunter Hund. Irgendwann hatte sich die Nummer aber erschöpft. Senft ist zwar meist noch bei der Tour dabei, aber die Kameras schwenken schon seit Jahren weg. Begonnen hatte die zunehmende Ausblendung angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Um seine Reisen zu finanzieren, suchte sich Didi Senft gern auch Sponsoren, und für einige Zeit hatte er einen prominenten deutschen Autozulieferer auf Kutte und Dreizack, dessen Logo auf diese Weise lang und breit im Fernsehen zu sehen war. Das hat dann den offiziellen Toursponsoren nicht so gefallen, die über die Tourorganisation mit sanftem Druck auf das Fernsehen einwirkten, den Mann doch nicht dauernd und vor allem nicht so lange im Bild zu zeigen. Finanziell hat das dem Teufel sicher geschadet, zur Tour fuhr er trotzdem weiterhin.

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      Entspannter Julian


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