Ihr elenden Mörder. Jürgen Löhle
Heute verkleiden sich immer mehr Fans mit abgedrehten Kostümen, obwohl die Rennfahrer gar keine Muße für eine angemessene Bewunderung haben, zumindest nicht auf den schweren Bergpassagen. Da haben die Profis genug mit sich selbst zu tun, und manchmal übertreiben es die Brüllaffen auch schlicht, wie 2018, als ein durchgeknallter Fan den Italiener und Mitfavoriten Vincenzo Nibali beim Anstieg nach Alpe d’Huez zu Fall brachte. Nibali fuhr zwar noch ins Ziel, musste danach aber mit einem angebrochenen Brustwirbel aufgeben. Die Lösung für diesen Bergwahn wäre im Übrigen nicht so schwer. Würde man die großen Pässe allesamt mit Barrieren versehen, wie zum Beispiel die letzten Kilometer in Alpe d’Huez oder am Mont Ventoux, wären die Fahrer geschützt. Aber die Welt lechzt eben nach Bildern, die zeigen, wie sich die Rennfahrer durch wogende Fanmassen kämpfen. Und da die Show extrem wichtig ist, wird es auch künftig zumindest einige völlig freie Passagen geben.
Früher war das Verhältnis Profi/Zuschauer deutlich entspannter, da so manche Etappe, nach Absprache der Kapitäne der großen Teams, zumindest am Anfang eher piano gefahren wurde. Ein beinhartes Rennen gab es dann nur in den letzten zwei, drei Stunden. Vorher hatten die Profis noch genug Zeit, sich auch mal anzusehen, was da so alles an Zuschauern am Straßenrand stand. 1979 kam es dabei zu einer kuriosen Episode: Ein paar Rennfahrer drehten das bekannte Spiel des Nassspritzens einmal um. Es war sehr heiß, das Feld kurbelte einen Berg hinauf, als plötzlich eine Frau in einem winzigen Bikini und mit High Heels am Straßenrand stand und winkte. Der Belgier Ludo Peeters dachte sich wohl, da könne man bei der Hitze mal helfen und spritzte die Dame mit seiner Wasserflasche an – sehr zur Freude seiner Mitradler. Ob es der jungen Frau auch gefallen hat, ist nicht bekannt.
Dichter Verkehr – Chris Froome rennt zu Fuß
Radfahrer haben immer Vorfahrt – davon sollte man bei der Tour de France eigentlich ausgehen, schließlich ist es ein Radrennen. Aber so einfach ist das nicht. Ganz im Gegenteil. Die Radler rollen ja nur ganz selten durch menschenleere Landschaften. Meistens stehen Zuschauer am Straßenrand, in den Bergen auch zu Tausenden auf wenigen Kilometern. Da kann es dann schon mal eng werden. Obendrein werden die Profis von einer Armada an Autos und Motorrädern begleitet. In manchen Autos sitzen Teamchefs und Mechaniker, in anderen VIPs oder der Tourarzt. Auf den Motorrädern arbeiten Fotografen, Kameraleute und Ersthelfer bei Reifenpannen. Auch das birgt Konfliktpotenzial, besonders wenn die Straße eng ist. By the way, Jens Voigt hat mal gesagt, er reiße auch deshalb so gern aus, weil allein an der Spitze die Luft besser sei. Ist sie aber eher nicht: Vor dem Führenden klemmt schließlich meist ein Motorrad mit Kameramann. Bei den harten Bergetappen atmen die Spitzenleute oft Abgas mit ein klein wenig Luft. Aber es gibt Schlimmeres:
Zum Beispiel der verschenkte Sieg des braven Philippe Bouvatier. Der Profi aus der Normandie sieht bei der 14. Etappe der Tour 1988 schon wie der sichere Sieger aus. Es ist nicht mehr weit ins Ziel, und Bouvatier hat auf der schweren Pyrenäenetappe von Blagnac nach Guzet-Neige im Finale ganz offensichtlich die besten Karten. Er führt 200 Meter vor dem Ziel vor zwei Verfolgern, die ihn normalerweise nicht mehr erreichen können. Das war so nicht zu erwarten gewesen. Die beiden anderen sind der Italiener Massimo Ghirotto und der superstarke Bergspezialist Robert Millar aus Schottland. Aber Bouvatier sprengt die Gruppe und rast zu seinem größten Erfolg – allerdings nur fast. Am Ende wird er ein Opfer des Verkehrs. Bouvatier fährt direkt hinter dem Motorrad eines Fotografen. Das verlässt aber 200 Meter vor der Ziellinie geradeaus den Kurs Richtung Presseparkplatz, und der arme Kerl radelt blind hinterher, wie man es eben so macht bei der Tour. Den hektisch nach rechts winkenden Polizisten kann er so kurz hinter dem Motorrad nicht sehen, und als er seinen Fehler bemerkt, sind die anderen beiden schon an ihm vorbei. Was ihm bleibt, ist der dritte Platz und die Erkenntnis, dass der Verkehr bei der Tour tückisch ist. Und immerhin noch eine Prämie in Form eines Peugeot. Der war als Sonderpreis für den Sieger ausgelobt gewesen, und den ließ man dann doch dem orientierungslos gewordenen moralischen Etappengewinner.
Man darf sich übrigens auch zu Fuß Richtung Ziel bewegen. So wie Chris Froome 2016 bei der zwölften Etappe von Montpellier auf den Mont Ventoux. Da ein Sturm die Zielankunft auf dem schutzlosen Gipfel in der Provence unmöglich macht, verlegt die Rennleitung das Ziel auf den Parkplatz des sechs Kilometer tiefer gelegenen Chalet Reynard. Tausende von Fans ziehen nach der Absage der Zielankunft am Gipfel Richtung neues Ziel und an die nun letzten Kilometer der Strecke. Dort stehen aber bereits viele Fans, die Straße ist hier zudem eng. Schnell sind es einfach viel zu viele Leute für zu wenig Platz, die Straße ist proppenvoll. In diesem Chaos muss ein Motorrad scharf abbremsen. Richie Porte, Bauke Mollema und Chris Froome können nicht mehr ausweichen und stürzen. Froome will weiterfahren, aber sein Rahmen ist gebrochen. Fluchend schiebt er sein Velo ein paar Meter, dann rennt er zu Fuß weiter. „Ich wusste, dass der Begleitwagen mit einem Ersatzrad fünf Minuten hinter uns war“, begründete er seine kuriose Aktion. Quälende Minuten später hat sich ein Teamauto zu Froome durchgekämpft. Der Star bekommt sein Ersatzrad, verliert aber bis ins Ziel gut sieben Minuten auf die Schnellsten. Die Jury kassiert dann schließlich das Ergebnis und wertet die Zeitabstände unter den Favoriten zum Zeitpunkt des Sturzes. Glück für den Mann im Gelben Trikot, der so seine Führung von 47 Sekunden verteidigte und die Tour 2016 dann auch gewann. Froome hatte vor allem auch deswegen Glück, weil das dicke und eigentlich lückenlose Regelwerk der Tour keinen Passus enthält, wie mit zu Fuß und ohne Rad zurückgelegten Strecken umzugehen sei. Kurzum, da es nicht explizit verboten ist, konnte man dem Engländer aus seiner verzweifelten Rennerei auch keinen Strick drehen.
Ja, darf man denn das? Chris Froome rennt 2016 nach einer Panne im Zuschauerchaos am Mont Ventoux zu Fuß weiter. Die Antwort: Ja, man darf.
Der Verkehr birgt aber manchmal weit größere Risiken, als ein Stück zu Fuß rennen zu müssen. Es war der 9. Juli 2011, auf der neunten Etappe zwischen Aigurande und Super Besse in der Nähe des Puy de Dôme im Zentralmassiv. Ein Begleitauto des französischen Fernsehens setzt auf einer engen, von Alleebäumen gesäumten Straße zum Überholen der Spitzengruppe an. Die Bäume stehen nicht akkurat in einer Reihe, einer ragt mit dem Stamm so weit in die Straße, dass der Wagen einen Schlenker machen muss. Dabei touchiert er Juan Antonio Flecha. Der Spanier verliert die Kontrolle, stürzt und reißt Johnny Hoogerland mit. Der Holländer fliegt nach rechts von der Straße, überschlägt sich und landet in einem Stacheldrahtzaun. Blutüberströmt klettert er wieder auf das Rad. Aus der Traum – Hoogerland war mit vier anderen Ausreißern knapp fünf Minuten vor dem Feld gewesen, die Chance auf den Etappensieg ist natürlich perdu. Aber dann produziert der Mann die Bilder, die die Tour sehen will. Zusammen mit Flecha fährt er mit ein paar Metern Pflastern und Wundauflagen notdürftig verklebt weiter. Im Ziel fehlen ihm über 16 Minuten zum Etappensieg, trotzdem übernimmt er das Trikot des besten Bergfahrers, die Punkte dafür sammelte er vor dem Sturz. Am Abend wird er mit 33 Stichen zusammengeflickt. Der Chauffeur des TV-Autos wird von der Tour suspendiert, er hatte das Überholverbot an dieser Stelle krass missachtet. Die Fachwelt wartete natürlich auf die Aufgabe des ramponierten Hoogerland, aber der fuhr nach dem Ruhetag tapfer weiter und verteidigte das Bergtrikot sogar noch drei Tage, sozusagen vom Krankenlager auf den Tour-Gipfel. Am Ende kam er auch noch in Paris an, und 2014 gab es nach einem langen Prozess gegen die TV-Produktionsgesellschaft, die das Auto gechartert hatte, auch noch Schmerzensgeld. Wie viel, ist nicht bekannt.
Zimperlich darf man bei der Tour nicht sein. Johnny Hoogerland wird 2011 von einem Presseauto in einen Stacheldrahtzaun abgedrängt, fährt aber weiter und erobert schwer verletzt das Bergtrikot.
Ein gar nicht so seltenes Phänomen im Verkehrsgewühl der Tour ist das Vergessen von Mechanikern oder Physiotherapeuten aus den Teamautos hinterm Feld bei Pinkelpausen am Straßenrand. Ungeplante Pausen kommen bei Etappenlängen von sechs bis sieben, manchmal auch acht Stunden schon mal vor. Meldet in der Zeit innerer Erleichterung der Funk ein Problem mit einem Fahrer im Feld, gibt der Sportliche Leiter auch dann wieder Gas, wenn noch nicht alle zurück im Auto sind. „Es gibt kein Radrennen auf der Welt, bei dem die Hektik größer ist als bei der Tour“, sagt dazu Hans-Michael