Haus der Hüterin: Band 1 - Das Erbe. Andrea Habeney

Haus der Hüterin: Band 1 - Das Erbe - Andrea Habeney


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      Es dauerte einen Moment, bis Rylee die Information verarbeitete. „An der Küste? Wie in Nordsee?“

      Er nickte. „Genauer gesagt handelt es sich um die Ostsee.“

      Sie starrte ihn an. „Aber das sind, warten Sie, mindestens 800 Kilometer von hier.“

      „Sie haben in Erdkunde aufgepasst, wie ich sehe.“

      Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und schwieg. Dann kristallisierte sich ein Gedanke aus dem Durcheinander in ihrem Kopf. „Erzählen Sie mir von meinen Eltern?“

      Ein Anflug von Abscheu zog sich über seine ansonsten unbewegten Züge. „Nein. Und fragen Sie bitte nicht mehr.“

      „Aber...“ Resigniert ließ sie sich zurücksinken. „Dann von dem Haus? Was erwartet mich? Und wovon lebe ich?“

      „Ihre Gäste werden für ihren Aufenthalt bezahlen.“

      „Und wenn keine Gäste kommen? Sagten Sie nicht, das Haus wäre in keinem guten Zustand?“

      „Ich sagte, es ruht. Wenn es erwacht ... falls es erwacht, werden auch Gäste kommen. Wenn es ordentlich geführt wird. Ich bezweifle, dass Sie das können.“

      Rylee zweifelte immer mehr an ihrer Entscheidung. „Und wenn ich es nicht kann, was dann?“

      Esterhazy wandte sich ihr zu. „Dann und nur dann, wenn Sie absolut und unwiderruflich scheitern, können Sie mich kontaktieren. Sie werden das Haus dann an uns abtreten, und wir werden Ihnen eine angemessene Starthilfe für ein normales Leben in einer Stadt Ihrer Wahl zur Verfügung stellen.“

      „Und an wen kann ich mich sonst wenden, wenn ich Hilfe brauche?“

      Er sah wieder nach vorne. „Das ist Ihre Sache. An den Orden in jedem Fall nicht. Hüter arbeiten üblicherweise alleine und auf sich gestellt.“

      Rylee sah nach unten. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Aber jetzt gab es erst mal keinen Weg zurück. Sie sah wieder auf und reckte das Kinn nach vorne. Auf Esterhazy durfte sie nicht zählen. Sie würde ihm nicht die Befriedigung geben, ihr weitere Antworten vorenthalten zu können.

      Schweigend verbrachten sie die nächsten Stunden, während das schwere Auto Kilometer um Kilometer der Strecke fraß.

      Es war später Nachmittag, als sie die erste Prise Seeluft roch. Sie mussten in der Nähe der Küste sein. Esterhazy hatte die ganzen Stunden Statue gespielt und kein Wort gesagt. Jetzt rührte er sich und sah aus dem Fenster. Sie hatten die Schnellstraße verlassen und folgten bereits seit einiger Zeit einer schmalen Landstraße. Endlich kamen sie durch ein kleines malerisches Dorf. Der Fahrer durchquerte es und bog in eine einspurige Seitenstraße ein. Einige hundert Metern hinter den letzten Häusern hielt er an.

      Esterhazy seufzte tief. „Wir sind da“, stellte er überflüssigerweise fest. Er öffnete die Tür, bevor der Fahrer dazu kam, und stieg aus. Rylee verließ den Wagen auf ihrer Seite und drehte sich um. Beim Anblick, der sich ihr bot, blieb ihr der Mund offen stehen.

      Esterhazy stand mit dem Rücken zu ihr und sah auf das größte und hässlichste Haus, das sie je gesehen hatte. Langsam ging sie um den Wagen herum und stellte sich neben ihn.

      Vor ihnen erstreckte sich eine halb verfallene Mauer aus Natursteinen in beide Richtungen. An manchen Stellen war sie nur noch kniehoch und von Efeu überwuchert. Ein rostiges Gartentor hing schief in den Angeln. Der Garten war ein Dschungel, in dem hier und da die Reste der einstigen Bepflanzung durchschimmerte.

      Das Haus selbst war mehr eine Villa mit mindestens zwanzig Zimmern. Eine Holzveranda nahm die gesamte vordere Front ein. Das Geländer war hier und da eingebrochen, und eine alte Hollywoodschaukel lag umgestürzt auf der Seite.

      Sie blickte die drei Stockwerke hinauf. Die Fenster schienen blind, und die Fassade war schmutzig und voller Löcher.

      Mit viel Fantasie war hier und da noch die einstige Schönheit des Gebäudes zu erkennen. Türmchen und Giebel zierten das Dach und Ornamente rankten sich um die Fenster.

      Doch alles war verfallen und machte den Eindruck einer Ruine. Rylee schluckte. „Das ist mein Haus?“, meinte sie zu Esterhazy.

      Zu ihrer Überraschung sah dieser sie prüfend an. „Was sehen Sie?“

      „Eine uralte eingestürzte Ruine. Da soll jemand wohnen?“

      „Wenn Sie nicht möchten ...“, setzte er an.

      „Nein, nein!“ Sie hob die Hände. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. So alt und verfallen das Haus war, es war ihres. Das erste, was sie in ihrem Leben wirklich selbst besaß. Wenn auch nur, weil es niemand anderes wollte. Doch das war nicht richtig. Esterhazy oder sein Orden, was immer das aus sein mochte, wollten es schon. Aber es gehörte ihr.

      „Kann ich hineingehen?“

      Wieder sah er sie merkwürdig an. „Das ist die Frage, nicht wahr? Versuchen Sie es.“

      Rylee sah von ihm zum Haus. Sie ging zurück zum Auto und holte ihre Tüte hinaus. Ohne Esterhazy zu beachten, ging sie zum Gartentor und streckte die Hand aus. Sie zögerte, dann legte sie die Hand auf die Klinke. Ein Schauder durchlief sie. Oder war es das Tor, das bebte? Nein, es war ganz klar ein Prickeln, das über ihren Körper strömte und ihr eine Gänsehaut bescherte. Dann war der Eindruck vorbei, und sie drückte die Klinke hinunter. Das Tor öffnete sich mit einem Knarren, und sie machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Nichts geschah. Sie sah zu den Fenstern hoch. Fast schien es ihr, als würden sie sie beobachten. Hastig drehte sie sich zu Esterhazy um. Auf seinem Gesicht lag eine merkwürdige Mischung von Ärger und Resignation. Schnell nahmen seine Züge wieder einen unbewegten Ausdruck an und er nickte. „Das Haus akzeptiert Sie. Leben Sie wohl!“

      Damit drehte er sich zum Gehen. Rylee lief durch das Gartentor. „Warten Sie! Sie können mich doch hier nicht einfach alleine lassen!“

      Ohne sich umzudrehen meinte er. „Meine Aufgabe ist erledigt. Ich habe Sie hergebracht, und das Haus hat Sie angenommen. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“

      „Können oder wollen Sie nicht?“ Angst und Unsicherheit ließen Rylees Stimme schrill klingen.

      Esterhazy ignorierte sie und stieg in den Wagen. Sobald die Tür geschlossen war, wendete der Fahrer und fuhr die Straße hinunter. Rylee sah ihnen nach, bis Staubwolken ihn verschluckten. Dann drehte sie sich wieder zum Haus um. Zu ihrem Haus.

      Zum zweiten Mal durchquerte sie das Gartentor. Diesmal blieb sie nicht dahinter stehen, sondern ging weiter durch den Garten Richtung Haus. Einmal stolperte sie über eine angehobene Bodenplatte. Wurzeln kamen hier und dort hervor und viele Steinplatten waren gesprungen. Das Haus ragte turmhoch vor ihr auf, düster und bedrohlich. Sie stieg die Verandatreppe hinauf, deren Holzstufen morsch und brüchig schienen, und stand vor der Eingangstür. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gar keinen Schlüssel besaß. Sie drückte dagegen, und die Tür öffnete sich knarrend einen Spalt. Vorsichtig drückte sie sie weiter auf und spähte ins Haus.

      Es war dunkel, nur wenig Licht fiel durch die trüben Fenster. Sie tastete an der Wand nach einem Lichtschalter und fand ihn auch, höher als sie erwartet hatte. Als sie ihn betätigte, passierte jedoch nichts. Sie seufzte. Sie sollte dankbar sein, dass der alte Schuppen überhaupt über Elektrizität verfügte. Sie machte die Tür weit auf, damit Licht von draußen herein fallen konnte, und setzte zum ersten Mal einen Fuß in ihr neues Zuhause.

      Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, erkannte sie immer mehr Einzelheiten um sich herum. Sie stand in einer Art Eingangshalle, von der eine breite Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Mehrere Türen gingen von ihr ab. Altertümliche Möbel standen an den Wänden und ein schmutziger, vage als dunkelblau erkennbarer, Teppich lag auf dem Boden. Sie öffnete aufs Geratewohl die nächste Tür und stand in einer riesigen voll eingerichteten Küche. Hier fiel durch das große schmutzige Fenster über der mächtigen Steinspüle mehr Licht ein. Es gab keinen Wasserhahn, sondern eine Pumpe. Sie ging zum Becken und betätigte den Pumparm. Nach einiger Zeit ergoss sich ein rostbraunes Rinnsal


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