Der Klavierschüler. Lea Singer

Der Klavierschüler - Lea Singer


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freistellen. Keiner schaute mehr nach vorn, bis auf den Fremden. Tiger Lily kreuzte in der Bar auf, in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, und setzte sich direkt neben den Fremden, eine Bierflasche in der Hand. Im Bartschatten klebten noch Make-up-Reste, in die Stirn hatte die Monroe-Perücke eine Rille gedrückt. Neu hier?

      Der Fremde blickte unverwandt auf den Rücken des Pianisten.

      Sie haben mir Sekt spendiert. Beim Sprechen klang Tiger Lily baritonal. Jeder hier weiß, dass ich nach dem Singen nur das hier trinke. Er setzte die Flasche an. Der Fremde beugte sich vor. Tiger Lily nahm das Glas des Fremden, hielt es gegen das Bühnenlicht und stellte es wieder hin. Wasser! Wasser um Mitternacht! Sind Sie denn schon durch alle Feuchtgebiete vom Vieri gekrault? Das Schweigen des Fremden war glattledern wie seine Jacke. Der spielt zu gut für eine Spelunke wie die hier, oder?, stichelte Tiger Lily. Der Fremde beugte sich noch weiter vor. Lily beugte sich mit, sein Mund war nun nah am Ohr des Fremden. Mein Lied, das hat er komponiert, der kommt von Beethoven und dem ganzen Zeug.

      Nach der zweiten Flasche Bier gab Tiger Lily auf. Den Kopf nach hinten über die Lehne gekippt, die langen Beine ausgestreckt, saß er da, als nun der Fremde ihn ansprach. Kann er Schumann?

      Ob er was kann?

      Schumann spielen. Die Träumerei. Fragen Sie ihn bitte, ob er die Träumerei von Schumann spielen kann.

      Tiger Lily lümmelte sich in die Senkrechte, murmelte etwas von Nazifilmmusik und schlurfte Richtung Klavier.

      Der Pianist blieb sitzen, fragte Tiger Lily offenbar etwas, fragte wohl auch nach; dass hier ein solches Stück gewünscht wurde, musste ihn verblüffen. Reglos verharrte er dann noch, als müsste er sich erst zurechtfinden, wandte sich jedoch nicht um. Er wollte also offenbar nicht wissen, von wem der Wunsch kam, dieser Wunsch aus einer anderen Welt.

      Einen Besenstiel in der Hand, stellte sich Tiger Lily in den High Heels von vorher auf die Bühne und stieß wie ein Tambourmajor auf den Holzboden, bis der Lärm verebbte. Es verging eine lange halbe Minute, bis der Mann am Klavier begann.

      Der Fremde saß da, ohne sich anzulehnen, die Lider geschlossen.

      Zögernd stiegen Töne auf, wie eine Erinnerung an etwas Fernes, aber nie Vergessenes. Der Pianist schien weniger zu spielen, als zu sinnieren und dem nachzulauschen, was seine Finger da erweckten. Diese Musik passte nicht hierher. Doch sie war so leise, dass jeder hinhörte.

      Keinem fiel auf, dass der Fremde weinte. Nach wenigen Minuten war alles vorübergezogen. Was nachklang, verbot für ein paar Atemzüge jedes Geräusch. Niemand applaudierte. Erst als der Pianist sich erhob und unsicher, als hätte ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, in die Richtung ging, wo Lily sich fläzte, begann es wieder zu lärmen.

      Lily stand auf, drückte den Pianisten auf den freigewordenen Stuhl und schlackerte zum Stammtisch, hinter dem farbige Glühbirnen und Plastikrosen die Devotionalien berühmter Gäste rahmten.

      Der Fremde saß zusammengesunken da. Seine Oberlippe bebte, sonst rührte sich nichts an ihm.

      Das waren doch Sie, sagte der Pianist. Sie haben sich die Träumerei gewünscht, richtig?

      Der Fremde wandte ihm sein Gesicht zu, ein olivfarbenes, verschlossenes Gesicht, soweit es bei der schlechten Beleuchtung zu erkennen war, ebenmäßig und unauffällig.

      Wer sind Sie?, fragte der Fremde.

      Der Pianist lächelte wieder auf diese Mädchenart, lockend und lieb. Wollen Sie wissen, wer ich bin oder wie ich heiße?

      Der Fremde schwieg.

      Antwort eins ist bei mir nie zufriedenstellend, ich weiß es nicht recht, keiner weiß es, vieles und irgendwie auch gar nichts. Also Antwort zwei: Kaufmann, Nico Kaufmann.

      Die anderen waren zu sehr mit sich beschäftigt, als dass ihnen die stillen Männer an der dunkelsten Stelle der Bar aufgefallen wären.

      Der Fremde hatte den Kopf wieder gesenkt, redete, aber mehr zu sich selbst. Das ist dreißig Jahre her mit der Träumerei, ja, es muss 1956 gewesen sein.

      Sie also ein Teenager?

      Fünfzehn, ich habe aber meistens behauptet, ich sei sechzehn, siebzehn. Mein Gott, so nah. Das ist die Musik – es ist Wahnsinn, so nah. Er verstummte. Madonna sang Like A Virgin. Kaufmann summte mit und wartete. Tiger Lily stellte zwei Gläser Rotwein auf den Tisch. Vom Haus, sagte er.

      Der Fremde dankte nicht, trank nicht, umklammerte den Stiel seines Glases und schwieg weiter.

      Als Kaufmann den Fremden fragte, was ihn hergeführt habe, in diese Gegend, in diese Bar, um diese Zeit, reagierte er nicht. Madonna sang noch immer Like A Virgin.

      Kaufmann wiederholte seine Frage.

      Der Fremde sah auf. Sind Sie katholisch?

      Getauft, ja, sagte Kaufmann.

      Todsünde, meine Mutter hat immer von sieben Todsünden geredet. Gibt es so etwas für Sie?

      Darüber habe ich noch nie in einer Bar geredet. Kaufmann nahm den ersten Schluck Rotwein. Und wenn Sie darüber reden wollen, aber offenbar nichts trinken, er nahm den zweiten Schluck, warum gehen Sie in eine Bar?

      Der Fremde rückte seinen Stuhl näher zu Kaufmann. Seit heute Mittag habe er in Zürich eine Pianobar gesucht, in der irgendwer Schumanns Träumerei spielen konnte. Die Zeit im Ausland, der Wohnsitz außerhalb, er kenne sich hier nicht mehr aus, habe sich durchgefragt, mühsam: Hotelbars, Szenebars, Cocktailbars mit einem Klavier? Die im Kreis 4 sei die achte oder neunte gewesen. Die letzte, die noch blieb.

      Und warum musste es nach dreißig Jahren auf einmal dieses Stück sein, gerade drei Minuten lang, besser weniger?

      Ich wollte ihm danken.

      Kaufmann stutzte. Wem? Dem Pianisten von damals?

      Nein, dem Stück, dem wollte ich danken. Ohne dieses Stück wäre ich jetzt seit … der Fremde schaute auf seine Uhr, seit vierzehn Stunden und dreißig, vielleicht vierzig Minuten tot.

      Dann stand er auf.

      Ich muss gehen, sagte er ruhig und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.

      Kaufmanns rechter Fuß war eingeschlafen. Trotzdem stand er ebenfalls auf.

      Ich komme mit, sagte er.

      III

      Das Bettzeug war aus Frottee, bedruckt mit Zwergen. Bügelfrei, sagte Kaufmann. Meine Mutter hätte mich verstoßen. Nur reines Leinen, gestärkt, mit Monogramm. Er stand auf der einen Seite der Couch, der Fremde auf der anderen; gemeinsam zurrten sie ein Spannbetttuch über das Velourpolster mit Biedermeierstreifen.

      Der Weg von der Bar in der Kanonengasse war nicht weit gewesen, zehn, zwölf Minuten waren sie durch die nasskalte Frühjahrsnacht gegangen. Kaufmann hatte es dem Fremden leicht gemacht. Er sei quasi frisch verwitwet und froh über Besuch, das Gästezimmer sei komfortabel. Doch während sie nebeneinander her spazierten, wurde ihm bewusst, dass die Zusage des Fremden, ein rasches, trockenes Ja, eigentlich nicht zu ihm passte.

      Dem Tod entronnen, so viel war klar, aber was für einem Tod? Bei einem Attentat, einem Unfall, einem Raubüberfall? Oder auf dem Operationstisch? Schwer vorzustellen außerdem, wie dabei die Träumerei ins Spiel gekommen war. Der Fremde übernachtete offenbar gern bei ihm, gratis natürlich. Doch seine Schuhe, seine Lederjacke, seine Uhr, was er am Körper trug, kostete mehr als eine Woche im Baur au Lac.

      Erst als das große Kopfkissen, das kleine Kopfkissen und die Steppdecke ebenfalls bezogen waren, sagte der Fremde: Danke.

      Noch ein Glas Port oder Williamine?

      Danke, nein, sagte der Fremde.

      Ich hätte auch einen alten Zuger Kirsch.

      Der Fremde schüttelte den Kopf.

      Kaufmann fixierte ihn über die Kinderbettwäsche hinweg, zum ersten Mal in dieser Nacht.

      Der Fremde erwiderte den Blick.


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