Der Klavierschüler. Lea Singer

Der Klavierschüler - Lea Singer


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er, wo ich herkam, hatte er mich gesehen, meine olivfarbene Haut, mein schwarzes Haar, oder war er Italiener? Er lag auf dem Bett. Nackt. Nackt und …

      Der Fremde zögerte. … und schön.

      Ich schaffte es, das Tablett abzustellen und die Tür so zu schließen, wie es sich hier gehörte, dann ratterte ich die zwei Stockwerke hinunter. Vor der Pianobar lehnte ich mich an die Wand. Jeder musste es hören. In meinem Organismus toste eine wahnsinnig gewordene Orgel, in meinem Kopf brüllten sämtliche Priester von Zürich meine gebeteleiernde Mutter nieder, und meine Mädchenfankurve vom Bolzplatz schluchzte dazu. Da kam der Maître den Flur entlang. Ich, untätig an der Wand lehnend, jetzt, bei Hochbetrieb! Bevor er mich erreichte, war ich bereits drin. Im Saal war es entsetzlich still. Die Gäste still, der Pianist still. Dann begann er ein Stück, das ich nicht kannte. Es war leise und unendlich weit, und es kam ganz von innen her.

      Nach wenigen Minuten war es vorüber. Ich konnte nicht anders, ich musste zu ihm gehen. Was war das?, fragte ich, bitte, was war das? Er sah mich an, lange, prüfend, wohlgefällig. Ja, was war das? Er lächelte. Eine Träumerei. Er strich mir übers Haar. Die Träumerei aus den Kinderszenen.

      Kaufmann schüttelte den Kopf, musterte den Fremden, wie jemand, der seinen Sinnen nicht traut, schüttelte den Kopf noch einmal heftiger. Benommen stemmte er sich hoch, ging zu seiner Hausbar und schenkte sich den Zuger Kirsch ein. Sie auch?

      Der Fremde drehte den Sessel, kippte den Kirsch und starrte seinen Gastgeber an.

      Wollten Sie deshalb wissen, wie ich über Todsünden denke?, fragte Kaufmann. Ich bin auch im Kreis 4 geboren und aufgewachsen. Wiedikon, Nähe Bahnhof, damals, in den zwanziger Jahren, eine bürgerliche Vorgartenecke, spießig würde man heute im Vieri sagen. Arzthaushalt, Dienstmädchen, Köchin, Weißwäschefrau, Gründerzeitmöbel, Grammofon mit Kurbel, Ibach-Klavier, Tischgebet mittags und abends, Platz auf der Empore mit Namensschild in Sankt Peter und Paul, einmal die Woche beichten, an höhere Gerechtigkeit glauben, ein Onkel, der von der Familie geschnitten wurde, hinter geschlossenen Türen als Sodomit bezeichnet. Mir ist nur eins geblieben.

      Er kostete diese Pause aus, er sah den Hunger in den Augen des anderen. Trank von seinem Kirsch, setzte ihn ab.

      Ich glaube noch an Wunder.

      Er stand auf und ging zu Bett.

      IV

      Zuerst Libyen, daran war man bereits gewöhnt, Libyen und La Belle. Jeder kannte den schönen Namen der Disco in Berlin, wo vor allem Angehörige der dort stationierten US-Army ihre Nächte durchgetanzt hatten. Seit im La Belle in der Nacht auf den 5. April zwei US-Soldaten und eine Türkin von einer Bombe zerfetzt worden waren, fünfundzwanzig Besucher das Blutbad überlebt hatten, zweihundertfünfzig froh waren, dass nur ihr Trommelfell geplatzt war, wurde ständig mit Vergeltung gedroht. Dass Gaddafi hinter dem Attentat steckte, galt als sicher.

      Kaufmann hasste das Wort Vergeltung. Er hatte sein Croissant wieder auf den Teller gelegt, um das Radio abzustellen. Fußball und Wetter interessierten ihn nicht. Die Meldung war kurz: Meilen, Zürichsee. Ein Schweizer Diplomat, Mitte vierzig, werde seit gestern vermisst. Nach Polizeiangaben sei Suizid nicht auszuschließen. Die Verlobte des Vermissten, wohnhaft in Lausanne, bestreite das.

      Der Fremde erschien keine fünf Minuten später am Frühstückstisch. Aus dem Radio kam Klaviermusik.

      Kein Schumann, oder?, sagte der Fremde und setzte sich auf den freien Stuhl.

      Skrjabin, cis-Moll-Etüde. Es geht aber nicht um Skrjabin, es geht um Horowitz. Er wird zum ersten Mal seit einundsechzig Jahren wieder in seiner Heimat auftreten, am 20. April in Moskau. Die cis-Moll-Etüde gehört zu seinen Bravourstücken. Bravour-, das Wort würde er sich verbieten. Dafür ist dieses Stück zu dunkel, viel zu dunkel.

      Kaufmann behauptete später, es sei das Interesse des Fremden an Horowitz gewesen. Das habe ihn auf die Idee gebracht, diese Reise anzutreten. Der Fremde behauptete später, es sei Kaufmanns Instinkt für das Richtige gewesen, sein Gespür dafür, dass diesem Zufallsbekannten die Geschichte eines anderen helfen könnte, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Jedenfalls saßen sie, die Croissants waren noch nicht verdaut, in Kaufmanns altem Peugeot, am Steuer der Fremde. Sagen Sie Robert zu mir, hatte er gebeten, als Kaufmann ihm drei Hemden und drei fabrikneue Unterhosen auslieh. Der Rhythmus der Scheibenwischer machte es Kaufmann leicht, zu erzählen.

      Es war in Basel, fast genau vor neunundvierzig Jahren, ebenfalls April, nur das Wetter war besser. Sie können es Zufall nennen, dass ich ihn kennenlernte. Ich würde es … Gut, lassen wir das. Ich war am Stadttheater Solorepetitor, meine zweite Saison, erste Station auf meiner Dirigentenlaufbahn. Ich durfte bunte Abende dirigieren und selbst komponierte Weihnachtsmärchen, als Höhepunkt mal Mozarts Schauspieldirektor. Mitleid? Lassen Sie’s. Mit einundzwanzig kann man sich darüber noch freuen. Mein Vater verkündete, sein Sohn werde nun doch kein zweiter Liszt, dafür ein zweiter Toscanini. Er wusste so gut wie ich, dass es ein Ausweg war oder eine Ausrede.

      Ein niederländischer Maler, Bob Gésinus-Visser, gar nicht schlecht übrigens, von vielem angehaucht, von Nabis, Fauves und Neoimpressionisten, nur auf Besuch in Basel, mit dem ich über meinen Freund Jörg, ebenfalls Maler, zusammenkam … Also, Bob hörte, ich sei eigentlich Pianist, und fragte: Wollen Sie Horowitz kennenlernen?

      Kaufmann musterte den Mann, der Robert genannt werden wollte, von der Seite. Ich weiß nicht, ob es für Sie jemanden gibt …

      Ja, Tina Turner.

      Zwei, drei Jahre zuvor hatte ich Horowitz in der Tonhalle erlebt. Sie haben es nicht so mit der Klassik, was? Also, das Publikum klatscht dort üblicherweise so, als müsste es zahlen für zu viel Applaus. Bei Horowitz standen alle nach der dritten Zugabe und gingen schließlich widerwillig, mit roten Handflächen und Köpfen.

      Bob kannte Horowitz erst seit Kurzem, durch die Bernoullis. Sie sind Schweizer, Ihnen muss ich zu diesem Namen nichts erklären. Das Haus kannte in Basel jeder, Holbeinstraße 69, von außen brav und bescheiden, zwei niedrige Geschosse, weißgelackte Sprossenfenster, Schlagläden, und innen drin? Innen war Europa. Die Gäste, Sie verstehen, einmalig. Bernoulli, in diesem Fall Christoph Bernoulli der Soundsovielte, war Kunsthändler, Innenarchitekt, Musikwissenschaftler aus einer Musikerfamilie und seine Frau Alice, geborene Meisel, Modezeichnerin, jüdische Polin. Horowitz als jüdischer Ukrainer mit polnischen Großeltern passte hierher.

      Die Bernoullis prüften mich auf Horowitz-Tauglichkeit. Nach dem Abendessen musste ich vorspielen, nach dem Vorspiel wurde gnädig genickt. Zwei Tage später …

      Er brach ab und wurde ganz Scheibenwischer, atmete sogar in ihrem Rhythmus, sagte aber nichts. Erst nach ein paar Minuten meinte er: Das erzählt sich besser vor Ort.

      Als Robert im Steinengraben parkte, hatte er unter der Kuppel des Autodachs gehört, wie Horowitz das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow spielte, zwei Mal hatte er es hören müssen. Beim ersten Mal versäume man atemlos über dem Staunen die Musik, hatte Kaufmann erklärt. Andere sind als reife Pianisten über diesem Stück wahnsinnig geworden, er hat das mit siebzehn gespielt, obwohl er damals lieber Wagners Götterdämmerung und sämtliche Puccini-Opern hinlegte, auswendig natürlich.

      Bei seinem Abschlussexamen in Kiew spielte er nach ein paar Anwärmstücken von Bach bis Beethoven, an denen Mitstudenten scheiterten, die mörderische zweite Sonate von Rachmaninow, Chopins gnadenlose Fantasie in f-Moll, und hinterdrein gab er noch die Don-Juan-Paraphrase von Liszt, da wird Ihnen beim Zuhören schwindlig. Es soll das erste und einzige Mal gewesen sein, dass die Jury sich aufgeführt hat wie ungefähr fünfzehn Jahre später das Publikum in der Tonhalle.

      Der Regen war in Nieseln übergegangen. Der Steinengraben langweilte sich menschenleer. Zwischen Versicherungs- und Bankenbeton verzagten ein paar zierliche Barockhäuser. Kaufmann blieb vor einem Sechzigerjahre-Kasten stehen. Hier müsse es gewesen sein, er sei nie mehr hergekommen seither, damals ein Bau aus den Zwanzigern, ein Gästehaus, nichts Aufregendes. Erste Adressen habe Horowitz gemieden, in Paris das Ritz, in Basel die Drei Könige, in Zürich das Baur au Lac.

      Sein Blick klebte beim Reden


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