Fundstücke. Georg Markus
vierzigjährige August von Goethe unternahm eine Italienreise, die ihn – einmal mehr, um sich vom überragenden Vater zu emanzipieren – nach Mailand, Venedig, Mantua, Florenz, Neapel und Rom führte. Er starb am 27. Oktober 1830 in der Ewigen Stadt an den Pocken.
»Mit dem Großvater im besten und liebevollen Vernehmen«
Witwe, Söhne und Tochter verblieben nach Augusts Tod in Goethes Haus, und bald gesellte sich auch Ottilies jüngere Schwester Ulrike zu ihnen. Wie sehr er seine Schwiegertochter schätzte, bewies der Dichter, als er sie jetzt sogar zur Ausarbeitung des »Faust, Zweiter Teil«, heranzog. Niemand stand dem alten Goethe so nahe wie Ottilie mit ihrer kleinen Tochter Alma, der der über Achtzigjährige diese Tagebucheintragung widmete: »Das Mädchen ist allerliebst, und als ein ächt geborenes Frauenzimmerchen schon jetzt inkalkulabel. Mit dem Großvater im besten und liebevollen Vernehmen, aber doch, als wenn es nichts wäre, ihre Herkömmlichkeiten verfolgend. Anmutig, indem sie bei entscheidendem Willen, sich ablenken und beschwichtigen lässt. Übrigens keinen Augenblick ruhig. Lärmig, aber leidlich, und mit einigem Scherz gar bald in Ordnung und Zucht gebracht.«
Ottilie von Goethe darf nie wieder heiraten
Als Goethe am 22. März 1832 in seinem Weimarer Haus starb, war es Ottilie, die ihm die Hand hielt und an die er seine letzten Worte richtete (ob sie tatsächlich, wie oft zitiert, »Mehr Licht!« lauteten, ist nicht erwiesen). Nach seinem Tod musste die mittellose Schwiegertochter dem Testament des vermögenden Dichters entnehmen, dass sie sein Erbe nur unter der Bedingung antreten durfte, fortan ledig zu bleiben. Die mannstolle Ottilie war von dem Gedanken, nie wieder heiraten zu dürfen, geschockt.
Alma hatte problematische Eltern: August und Ottilie von Goethe
Ein Offizier, der sich gleich wieder aus dem Staub macht
Über einen Mangel an Männerbekanntschaften hatte sie sich freilich auch weiterhin nicht zu beklagen, sie verliebte sich ständig, geradezu zwanghaft, oft auch gleichzeitig in mehrere, meist viel jüngere Männer, was dazu führte, dass sie – wahlweise mit oder ohne Alma – viel unterwegs war, wobei Wien das von ihr bevorzugte Ziel war. Keine ihrer vielen Beziehungen hielt lange, und so verliebte sie sich 1834 in einen englischen Offizier namens Captain Story, der sich allerdings gleich wieder aus dem Staub machte, nicht ohne sie geschwängert zu haben. Eine Katastrophe in der damaligen Zeit für eine dreifache Mutter und Witwe, noch dazu eine adelige und – als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre – eine, die den Namen Goethe trug!
Franz Romeo Seligmann, 1808–1892, Arzt und Medizinhistoriker
Die nunmehr fast vierzigjährige Nymphomanin Ottilie von Goethe flüchtete, um die Schwangerschaft zu verbergen, nach Wien, wo sie im Hotel Zum Römischen Kaiser, das damals an der Freyung lag, Quartier nahm. Im selben Haus ordinierte der Arzt Romeo Seligmann, der sie am 15. Februar 1835 nicht nur von einer Tochter entband – sondern gleich auch Ottilies neuer Liebhaber wurde. Dr. Seligmann war um zwölf Jahre jünger als sie und hatte noch eine steile Karriere als Arzt und Ordinarius an der Universität Wien vor sich, berühmt wurde er aber, weil er im Jahr 1888, bei der Umbettung der sterblichen Überreste Ludwig van Beethovens auf dem Wiener Zentralfriedhof, widerrechtlich mehrere Schädelknochen an sich nahm, die viel später zur Erforschung der Taubheit des Musikgenies beitragen sollten.
Ottilies uneheliche Tochter hieß Anna Sybille, den Namen Goethe konnte sie ihr nicht geben, also verballhornte sie ihren Mädchennamen Pogwisch zu Poywisch und gab sie bei Pflegeeltern in Kost und Quartier. Romeo Seligmann versprach, sich um das Kind zu kümmern, aber Anna Sybille verstarb nach nur einem Jahr.
Ottilie kümmert sich wenig um ihre Kinder
In Weimar wurde Ottilie nach mehrmonatiger Abwesenheit von ihren drei ehelichen Kindern sehnsüchtig erwartet. Töchterchen Alma und die Söhne Walther und Wolfgang wurden derweil von Tante Ulrike, von ihrer Großmutter und von privaten Hauslehrern betreut, ihre Mutter bekamen sie auch nach deren Rückkehr nur selten zu Gesicht.
Im Künstlerkreis um Franz Grillparzer
Ottilie zog es weiterhin in die Ferne, ab Februar 1840 blieb sie mit Alma eineinhalb Jahre in Wien, nahm am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Donaumetropole teil, geriet durch Romeo Seligmann in den Kreis um die Dichter Franz Grillparzer, Eduard von Bauernfeld, Ernst von Feuchtersleben und den einstigen Schubert-Freund Franz von Schober. Vor allem faszinierte sie die Leichtlebigkeit der Stadt, in der sie stets hoffte, neue Eroberungen zu machen. Glücklich ist Goethes Schwiegertochter mit ihren rasch wechselnden Begleitern nie geworden. »Mit einem wilden, angeborenen Freiheitstrieb«, schrieb sie einer Freundin, »war ich doch immer vollkommen Sklavin, wo ich liebte.«
»Die großen, strahlend braunen Goethe-Augen«
Alma hatte trotz ihrer nicht unkomplizierten Kindheit ein sonniges Naturell, sie war eine begabte Schülerin, sprachlich gewandt, nahm teils in Weimar, teils in Wien Mal- und Zeichenunterricht, tanzte und spielte Klavier. Nach ihrer Konfirmation durch einen protestantischen Pfarrer in Wien hatte sie bei ihrer Rückkehr nach Weimar die Reife erlangt, an den Fürstenhof geladen zu werden. Anlässlich eines glänzenden Hofballs, bei dem der Erbgroßherzog Karl Alexander und seine Cousine Prinzessin Sophie der Niederlande ihre Vermählung feierten, forderte sie der hochgeborene Bräutigam zum Tanz zur Melodie des populären Sternenwalzers auf – und das war wohl der gesellschaftliche Höhepunkt in Alma von Goethes kurzem Leben. Die Ballgäste waren von ihrem offenen Wesen angetan und priesen »ihr frisches Lachen, ihre energischen Bewegungen und die großen, strahlend braunen Goethe-Augen«, wie man sie auch an ihrem Großvater so geschätzt hatte.
Alma schloss sich in Weimar einem Wohltätigkeitsverein an, in dem junge Damen Gewänder für notleidende und kranke Kinder nähten. Weimar war auch der Ort, den sie als ihr Zuhause sah. Mit der ihr zunehmend peinlich werdenden, liebestollen Mutter auf Reisen zu gehen, gefiel ihr weit weniger, auch weil sie in Weimar einen großen Freundeskreis hatte, dem nun schon zwei Verehrer angehörten. Hugo von Schmeling hieß der eine, seines Zeichens Fähnrich des Gardebataillons zu Potsdam, der andere war ein Herr von Boynburg, »ein sehr hübscher Mensch, welcher eine süperbe Figur hatte und prächtig tanzte«.
»Über Deinen Brief konnte ich wohl nur außer mir sein«
Alma hatte den innigen Wunsch, nach Beendigung ihrer Schulstudien die Stelle einer Hofdame im Hause Sachsen-Weimar anzutreten, was ihre Mutter brüsk ablehnte, weil sie vermutete, dass dies nur ein Vorwand ihrer Tochter wäre, sich von ihr loszusagen. »Liebe gute Mutter«, antwortete Alma, »über Deinen Brief konnte ich wohl nur außer mir sein, ich habe so geweint, dass ich nicht Zeichenstunden nehmen konnte. Ich hätte nicht gedacht, dass Du so an meiner Liebe zweifeln kannst … es ist töricht von mir gewesen, den Wunsch Hoffräulein zu werden, zu haben.« Nur ihrem Bruder Walther gestand sie in einem anderen Schreiben, dass sie ihren Traum noch nicht ausgeträumt hätte: »Es umarmt Dich Deine sehr gern Hoffräulein werden möchtende Schwester Alma.«
Ottilie behandelt Alma, als wäre sie ihr Eigentum
Ottilie von Goethe behandelte Alma mit zunehmendem Alter und abnehmender Anzahl ihrer Liebhaber, als wäre sie ihr Eigentum, und wenn ihr danach war, musste das Töchterchen mit ihr reisen. Wie unerfreulich das sein konnte, erfuhr Alma im Sommer 1842, als sie in einem Landgasthof abstiegen, von dem aus Ottilie ihrem Sohn Walther brieflich von einem »Reiseabenteuer« berichtete. »Drei englische Gentlemen« hätten sich vor ihrer Zimmertür laut miteinander unterhalten, worauf sie »ohne Schuh und Strümpfe« die Tür geöffnet und eine »kleine Flirtation« mit den Herren begonnen hätte, um – wie sie kokett hinzufügte – »nicht aus der Übung zu kommen«. Ottilie bedauerte, nicht auch noch am Abend in der Gaststube mit den Engländern geflirtet zu haben, aber sie hätte eingesehen, dass dies »für eine Lady unschicklich« gewesen wäre.
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Die krankhaften Protzereien mit