Elfenzeit 5: Trugwandel. Uschi Zietsch
Gemach; der Weg dorthin war ihm vertraut, auch wenn er bisher nie weiter als bis zur Tür gekommen war. Niemand vertrat ihm den Weg, die Wachen hatten ihren Platz schon lange verlassen, und auch sonst hielt sich keiner hier auf, nicht einmal eine Zofe. Sie wagten sich nicht mehr hierher.
Geduckt schlich der dicke Gott den Gang entlang, jederzeit auf Entdeckung gefasst, und legte sich eine Ausrede zurecht, was er hier zu suchen hatte. Für einen Moment stutzte er, als er die Tür zu Bandorchus Schlafgemach zum ersten Mal unverschlossen fand. In der Tat, nichts war mehr so wie früher. Solange die Königin hier gewesen war, hatte es diese Nachlässigkeit in der Disziplin nicht gegeben.
Forsch, mit geraden Schultern, schritt Gofannon aus, jetzt gab es kein Zurück mehr. Er ließ sich nicht aufhalten. War er ein Gott oder nicht? Es wurde Zeit, dass er sich daran erinnerte!
Behutsam schob er die Tür weiter auf – und blieb erstarrt stehen, als er einen großen dunklen Haufen vor dem Bett liegen sah. Gofannons verfluchtes, von jeglichem Schutz verlassenes Herz raste. War das dieser Mensch, den sie alle »Hündchen« nannten, aus Venedig?
Nein, dieser Körper war viel zu groß, und außerdem lagen auf der anderen Seite des Bettes die leeren Ketten.
Moment … Was?
Gofannons Schrecken wandelte sich in Verblüffung. Der Mensch war fort? Wie ging das zu? War er etwa zusammen mit der Königin verschwunden? Hatte sie ihn mitgenommen? Aber nein, das war unmöglich. Kein Mensch könnte jemals solche Bedeutung erlangen. Da musste etwas anderes passiert sein … vermutlich war er beseitigt worden, auch wenn es keine Blutspuren gab. Aber sicherlich hatte ihn jemand fortgebracht und dann das Werk weitab neugieriger Augen vollendet.
Aber was hatte dann dieser dunkle Haufen zu bedeuten, der …
Oh.
Gofannons Herzschlag sprengte ihm beinah die Brust. Er ist es!
Der Getreue. Lag dort vor dem Bett, hilflos, bewusstlos auf dem Boden. Die kalte Aura hatte ihn völlig verlassen, jetzt schien sie eher … ja, zu brennen? Konnte das sein? Aber wie wäre sein Zustand sonst zu erklären?
Grimmiger Hass, Hohn, wilde Freude spiegelten sich auf dem zerfurchten Gesicht des Gottes. Endlich! Sein Rivale war geschlagen, vernichtet, am Ende seiner Kräfte. Wie auch immer das geschehen sein mochte, jetzt hatte Gofannons große Stunde geschlagen. Er würde sich des verhassten Nebenbuhlers ein für alle Mal entledigen. Diese unglaubliche Gunst des Schicksals würde er nutzen! Gofannon schickte ein Dankgebet zuerst an sich selbst, dann an die Nornen, die ihn erhört und ihm einen hübschen Faden gesponnen hatten. Anschließend huschte er auf den Gang zurück, um eines der Schwerter zu holen, die dort an prächtig verzierten Schilden befestigt waren. Eine schöne, dennoch tödliche Dekoration. Das war die beste Strategie – Kopf ab, und der Fall war erledigt. Selbst den Mächtigsten und Göttern gelang es äußerst selten, diesen Vorgang rückgängig zu machen. Abgesehen vom Grünen Ritter, der das Kopfabschlagen zu seiner persönlichen Tugend der Wiederauferstehung erkoren hatte, bekam das niemandem gut.
Natürlich hätte Gofannon gern längere Rache genommen und wäre mit dem Getreuen so verfahren, wie der mit Alebin umging. Nicht etwa, um auch Alebin zu rächen – ganz im Gegenteil, dieser Meidling hatte nichts Besseres verdient. Aber die Folter hatte Esprit, das hatte Gofannon beim heimlichen Bespitzeln schnell erkannt, denn in solchen Dingen war er Spezialist. Es gab eine Menge, was Gofannon dem Rivalen antun wollte, doch er würde diesen Fehler zur Befriedigung eigener Gelüste nicht begehen. Solange der Getreue bewusstlos war, musste der Gott zuschlagen, ohne Zaudern und Zögern. Dann wäre eine große Last von seinen Schultern genommen, und er konnte das Ruder übernehmen. Oh ja, das gefiel ihm.
Der alte Gott umfasste den Schwertgriff mit beiden Händen und näherte sich langsam dem Bewusstlosen. Vorsicht war geboten, er war ja kein Narr. Wer wusste schon, ob der Getreue nicht von einem Schutzbann umgeben war …
Aber nein. Die Ohnmacht hatte ihn völlig überrascht. So, wie er dalag, ließ es keinen anderen Schluss zu. Kein Schutzbann, keine Gegenwehr.
Gleich war dieser Buhmann Geschichte und Gofannon ein Held. Das ganze Schloss würde ihm zu Füßen liegen, weil er es von dem Herrn der Schrecken befreit hatte. Das würde dem Gott ungeahnte, neue Kräfte verleihen …
Der Getreue lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür. Gofannon musste ihn umrunden, um den richtigen Ansatz für den Schwerthieb zu finden. Besser wäre es gewesen, wenn der Kapuzenmantel ihn nicht mehr umhüllen würde, aber es musste eben so gehen.
Ah. Da war der Kopf, immer noch bedeckt, als wäre die Kapuze mit dem Haupt verwachsen. Das eiskalte Glühen der Augen war erloschen. Ganz still und ruhig lag der Finstere da, wie leblos, bot keine Gefahr mehr. Fast friedlich.
Näher heran. Der Gott wog das Gewicht in Händen und rechnete aus, wo genau er ansetzen musste, wo die Klinge die größte Schlagkraft hatte. Er hatte nur einen einzigen Hieb, und der musste sofort den Kopf vom Hals trennen. Schnell und sauber, darin kannte er sich aus.
Das Schwert war gut und scharf. Es konnte nichts schiefgehen. Gofannon nahm Maß und hob die Arme.
Jetzt.
In diesem Augenblick schoss eine schwarz behandschuhte Hand von unten her auf ihn zu.
Gofannon stieß ein quiekendes Geräusch aus, als eisenharte Finger sich um seine Kehle schlossen und zudrückten. Im nächsten Augenblick wurde er von den Beinen gerissen und landete unsanft auf dem Rücken, das Schwert fiel ihm aus den Händen. Wie ein gefangenes Tier zappelte er im Griff des Verhüllten, der sich aufrichtete und über ihn beugte.
Unmöglich. Wie kann er …
Doch er war wach und lebendig, und trotz der brennenden Aura immer noch stark, viel zu kraftvoll für den dicklichen Gott.
»Du kommst mir gerade recht«, zischte der Getreue mit der vertraut heiseren, aus dem Totenreich hallenden Stimme. »Deine göttliche Aura brachte mich im rechten Moment wieder zu mir.«
»N-nein …«, keuchte Gofannon halb erstickt. Vergeblich setzte er sich zur Wehr, kratzte und riss an der Hand, die ihn immer noch gnadenlos im Griff hielt. Seine kurzen Beine traten wild um sich, fanden aber kein Ziel. »D-das ist u-ungerecht …«
»Ich habe dir so viel gegeben, es wird Zeit, dass ich etwas zurückbekomme«, sagte der Getreue höhnisch.
»Du? Du hast mir gar nichts …«
»Alter Narr, was glaubst du, weswegen du noch am Leben bist? Davon werde ich dir jetzt ein bisschen nehmen. Doch sei unbesorgt, ich werde dich nicht töten, denn ich brauche dich noch.«
»Wag es nicht«, quietschte der Gott verzweifelt. »Das ist Blasphemie …«
»Ich stehe weit über dir in der Hierarchie.« Der Finstere lachte rau. »Dummer kleiner Gott. Und nun hör auf, dich zu wehren, sonst tut es nur weh. Mir ist das gleich, aber für dich dürfte es einen Unterschied machen.«
Gofannon gab allerdings keineswegs auf, schlug um sich und wand sich, unternahm alles, um sich zu befreien. Er schrie jämmerlich auf, als der Verhüllte ungerührt seinen Kopf dicht zu ihm herab senkte und die göttliche Lebenskraft in einem dicken weißen Faden aus ihm saugte. Die Schreie des Gottes erstarben bald, und er spürte tiefe Bewusstlosigkeit nahen, während der Getreue immer noch mehr Energie aus ihm zog.
*
Im selben Maße, wie die Lebenskraft in ihn floss, erlosch das Feuer in der finsteren Aura und wohltuende Kälte breitete sich aus. Als es genug war, ließ der Getreue den mittlerweile geschrumpften und verhutzelten Gott fallen und sank mit einem tiefen Seufzer an den Bettrand zurück, der ihm willig Stütze gab.
Während Sand aus dem alten Stundenglas am Kopfende des Bettes rann, ließ der Getreue die neu gewonnene Kraft durch seinen Körper strömen und fühlte dankbar, wie er sich erholte, wie alles in ihm abkühlte und seine Gedanken sich klärten.
Er konnte sich kaum erinnern, was geschehen war. Plötzlich war das Feuer in ihm hell aufgelodert, dann waren ihm die Sinne geschwunden, und er war erst wieder