Elfenzeit 4: Eislava. Verena Themsen
würde er die Seele ja aufgeben, und alles konnte sein wie gewohnt. Aber das wiederum würde Nadja wehtun, und das wollte Rian ja gar nicht, denn Nadja war ihre beste Freundin.
Jetzt fängst du auch schon an, dir wegen der Liebe so dumme Gedanken und Probleme zu machen, schalt sie sich innerlich. Vergiss das. Die Dinge werden, wie sie werden, und du hältst dich am besten raus.
Entschlossen wandte sie sich von David ab und drängte sich zu Mats durch.
»Ah, die Elfendame!« Der alte Erzähler stand auf und zog einen Stuhl für sie heran. »Ich hoffe, du hast dich nicht nur gelangweilt bei meinen einfältigen Geschichten?«
»Ganz und gar nicht«, widersprach Rian, während sie sich setzte. »Ich finde deine Erzählweise faszinierend – und die anderen scheinen auch dieser Meinung zu sein. Machst du das oft?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Die meisten älteren Leute hier kennen schon alle meine Geschichten, und die jungen … na ja, es gibt nicht mehr viel Jungvolk hier im Dorf, und das kommt nicht ins langweilige Röda Thor, sondern verbringt den Abend lieber in der nächsten Stadt. Die sehen nicht mehr, wie viele Abenteuer die Welt um sie herum ihnen bietet, wenn sie nur die Hände danach ausstrecken und glauben.« Er zuckte die Achseln. »So ist der Lauf der Zeit. Selbst von denen, die kommen, sind nur deshalb heute so viele hier, weil sie euch Fremde sehen wollen.«
»Meinst du? Aber es kommt mir gar nicht so vor, als wären die Leute übermäßig neugierig auf uns.«
Mats ließ seine weißen Zähne in einem Lächeln blitzen. »Es wäre auch unhöflich, wenn ihr das bemerken würdet, und wenn wir Schweden eines niemals sind, dann unhöflich. Oder zumindest nicht, solange man uns nicht reizt. Legen wir unsere Höflichkeit allerdings mal ab, dann …« Er wackelte mit der Hand, spitzte die Lippen und sog die Luft etwas ein.
»Was dann?«
»Dann setzen wir uns Helme mit Kuhhörnern auf, greifen nach Axt und Schild und gehen morden und brandschatzen.« Mats grinste.
Rian neigte den Kopf zur Seite und musterte Mats. »Warum glaubst du, dass wir nicht von hier sind? Also, nicht aus dieser Welt? Oder sagst du das nur so?«
»Ich sage es mit vollem Ernst, und ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Er stand auf, griff in die Tasche seiner Lederweste und zog eine Pfeife hervor. »Ich würde gern ein wenig rauchen und mir die Füße vertreten. Nach so einer Erzählrunde brauche ich das. Wenn du weitere Antworten willst, musst du mit rauskommen.«
»Gern!« Rian stand auf, während Mats sich eine Wollstrickjacke überwarf und eine Schirmmütze aus Jeansstoff aufsetzte, und folgte ihm zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Niemand schien zu befürchten, dass Rian zechprellen würde. In einem Dorf wie diesem, das aus fünf oder sechs Straßen und einem Marktplatz sowie einigen im Umland verstreuten Höfen und einsamen Wohnhäusern bestand, gab es noch Vertrauen.
Vor der Tür zog Mats aus der anderen Westentasche ein Tabakbeutelchen und begann, in dem warmen Licht, das durch die Fenster fiel, seine Pfeife zu stopfen. Er machte eine Kopfbewegung auf eine der Seitenstraßen zu, die vom Markplatz wegführten. »Wenn man die Straße da runtergeht, am See vorbei, kommt man übrigens zu dem Wald, in dem mein Großvater der Skogsra begegnet ist.«
»Hat er wirklich all das erlebt?«, fragte Rian.
Schalkhaft blitzten die Augen des Schweden auf. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube ihm, dass er eine Waldfrau kannte. Oft genug rausgegangen und erst am nächsten Morgen wiedergekommen ist er. Aber ob die Geschichte so verlaufen ist, wie er mir erzählt hat, das weiß ich nicht. Ich vermute eher, dass sie irgendwann das Interesse an ihm verloren hat, weil er zu alt wurde oder ihre Bedürfnisse nicht mehr stillen konnte. Aber so etwas lässt einen ja nicht gerade als Held dastehen. Also hat er eine alte Geschichte übernommen, die man an anderen Orten erzählt, und sich da rein gestrickt.«
»Aber du glaubst an die Skogsra?«
Mats zwinkerte. »Ich habe sie gesehen. Ich war noch ein kleiner Junge, und man könnte annehmen, dass ich mich habe täuschen lassen. Aber ich gehe mit offenen Sinnen durch unsere Welt, und ich habe über die Jahrzehnte so viele andere Dinge erlebt, dass ich inzwischen sicher bin, dass auch die Skogsra echt war.« Mit einem langen Streichholz zündete er seine Pfeife an. Angenehmer Duft nach Pflaumentabak durchwehte die Luft.
Mats wies die Seitenstraße hinunter, die er ihr vorher gezeigt hatte. »Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Rian nickte. »Gern.«
Schweigend schlenderten sie zwischen den Häusern hindurch, deren Farben in der Nacht zu Grautönen verblassten. Rian mochte das kräftige Bunt, mit dem die Schweden ihre Häuser schmückten. Jedes Dorf wirkte ein wenig wie eine Ansammlung vielfarbiger Würfel, auf denen die farbig abgesetzten Rahmen der Fenster und Türen wie Augen waren. Sie setzten sich deutlich gegen den grau-grünen Hintergrund ab, der um diese Jahreszeit mit einzelnen Schneeflecken aufwartete.
Wenn der Schnee hier alles bedeckt, muss es noch hübscher aussehen! Vielleicht kann ich ja einmal im Winter herkommen …
Sie hatten inzwischen die Häuser hinter sich gelassen und wanderten an einem kleinen See entlang. Mats nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete mit dem Stiel auf die Umgebung, die kahlen Felder, die flachen Hügel dahinter und den Wald, der sich hinter dem See als dunkle Mauer erhob.
»Unser Land ist löchrig wie ein Schwamm«, sagte er. »Und damit meine ich nicht die von der Südküste bis hier hoch allgegenwärtigen Seen. Es gibt unzählige Löcher in die andere Welt, in eure Welt.« Er nickte Rian zu. »Du kannst es spüren, oder? Jeder große Baum, jeder Hügel, jeder See kann zum Durchgang werden. Und wir haben die Mondtore – Tore, die bei Vollmond oder Neumond von selbst aufgehen, oder wo die Grenze zumindest so dünn wird, dass ein Kundiger sie mühelos durchstoßen kann. Früher muss es auch anderswo so viele Portale gegeben haben, aber selbst in Irland habe ich sie nicht in dieser Dichte gefunden.«
Rian nickte. Fanmór hatte in Crain jedes ihm bekannte Tor dieser Art geschlossen, weil sich immer wieder Sterbliche in die Anderswelt verirrt hatten. Vor allem hatte er sichergehen wollen, dass kein Sterblicher sie während des Schlafes überraschen konnte.
Bis wir aufwachten und fanden, dass der Herbst Einzug gehalten hatte in unserem Land … Wie viele sind inzwischen wohl schon vergangen, für immer verloren, ohne die Möglichkeit der Rückkehr, die Annuyn manchen anbietet? Wie viele sind inzwischen dem früher unmöglichen Alterstod zum Opfer gefallen? Rian schüttelte die Gedanken ab und wandte sich wieder Mats zu.
»Wie kommt es, dass du diese Tore finden kannst?«
»Keine Ahnung.« Mats zuckte die Achseln und zog an seiner Pfeife. Langsam ließ er Rauchringe aus seinem Mund entweichen. »Vielleicht ist es einfach eine Frage des Glaubens«, fuhr er dann fort. »Ich war immer überzeugt, dass es die andere Welt gab. Darum konnte ich auch die Dinge sehen, die von den meisten rationalen Menschen heute nicht mehr gesehen werden, weil sie sie nicht sehen wollen. Dinge, die nicht zu ihrem Weltverständnis passen.«
»Gibt es noch mehr Leute hier, die das sehen?«
»Ein paar. Gerade auf dem Land und unter den älteren Leuten wirst du noch welche finden, die ihren Sinnen mehr glauben als den Büchern. Aber das ist vermutlich nur deshalb so, weil wir eben diese Dinge hier weiter erlebt haben, als in anderen Ländern die Tore zufielen.«
Rian staunte. Gerade die Völker, die innerhalb der Anderswelt als verschlossen und eigenbrötlerisch verschrien waren und von denen man kaum etwas sah, hatten anscheinend den engsten Kontakt zu den Sterblichen bewahrt. Vielleicht war gerade das der Grund für ihre Zurückgezogenheit, denn Fanmórs Gebot war diesbezüglich klar gewesen, und es galt für ganz Earrach: Es hatte keine Verbindungen mehr zu den Menschen zu geben.
»Und was lässt dich nun glauben, dass ich aus der Anderswelt bin?«, hakte sie bei der ursprünglichen Frage nach.
»Erstens einmal deine übermenschliche Schönheit«, stellte Mats fest und zwinkerte ihr zu. »Außerdem berühren deine Füße nicht den Boden. Und dein Schatten