Der letzte Papierkranich - Eine Geschichte aus Hiroshima. Kerry Drewery

Der letzte Papierkranich - Eine Geschichte aus Hiroshima - Kerry Drewery


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Tür

      hinter mir zu.

      Blätter an einem

      sterbenden Baum sind unsre

      Erinnerungen

      Großvaters Buch liegt auf dem Tisch.

      Meine Hand folgt den gestanzten Buchstaben.

      Innen trommeln die Figuren mit den Fingern.

      Wippen mit den Füßen.

      Seufzen ungeduldig.

      »Bald könnt ihr mir eure Geschichte erzählen«, sage ich zu ihnen.

      »Er liest nicht mehr,

      aber ich werde euch befreien.«

      Als ich jünger war,

      hat Großvater mir vorgelesen.

      Er saß auf meinem Bett, seine Stimme erfüllte den Raum.

      Seine Hände trugen die Wörter durch die Luft.

      In seiner Stimme schwangen Gefühle.

      Als ich zu alt zum Vorlesen war,

      haben wir immer noch Bücher geteilt,

      haben wir immer noch geredet,

      diskutiert,

      uns begeistert

      für Geschichten.

      Immer für Geschichten.

      Doch jetzt nicht mehr.

      Als Großmutter starb,

      starb auch etwas in ihm.

      Ich vermisse es, spüre ich.

      Ich vermisse, wer er war.

      Meine Mutter gießt Tee ein.

      »Was machst du heute?«

      Ich esse meinen Joghurt.

      »Bibliothek«, antworte ich. »Lernen.«

      Ihre Finger umschließen die Tasse.

      »Kannst du nicht hier lernen?«

      Fünf Wörter verbergen eine Million andere.

      Die Tür knarrt.

      Er schlurft herein.

      »Herrlicher Sonnenaufgang«, sagt er.

      Lächelnd.

      Ist heute ein guter Tag für ihn?

      Oder nur ein Morgen?

      Die Zeit wird es zeigen.

      Mutter runzelt die Stirn.

      Sorge zeichnet ihr Gesicht.

      »Kannst du bleiben, Mizuki? Ich muss zur Arbeit.«

      »Bleib nicht wegen mir«, sagt Großvater.

      »Ich komme bestens allein zurecht.«

      Wir sagen nichts.

      Keine von uns.

      Wir wissen, dass Minuten und Stunden alleine

      seine Worte verschlingen werden.

      Ich schaue Mutter an.

      Wo ist sie,

      meine Mutter ohne Kummerfalten?

      Ich nicke.

      Erleichterung kommt von ihr mit einem Seufzer.

      Ihr Lächeln wärmt mein Herz.

      Unsere Schuld nagt,

      triezt und terrorisiert uns,

      bis alles leer ist.

      Als die Haustür ins Schloss fällt

      und das Tor zuschnappt,

      dauert es nicht lange

      und in Großvaters Gesicht ist

      Traurigkeit.

      Schatten der Vergangenheit

      zehren an seiner Seele.

      Was geschieht in seinem Kopf,

      was ihm so zusetzt?

      Was bedrückt

      den Mann,

      der mir einst

      das Radfahren

      beibrachte?

      Der Großmutter drängte,

      tanzen zu lernen,

      um es dann selbst

      zu lernen.

      Der mich weckte,

      um mir in einer klaren Nacht

      die Sterne

      zu zeigen.

      Der mit Freunden

      Schach spielte.

      Und jedes Jahr

      Marmelade kochte.

      Der lächelte

      und lachte

      und lebte.

      Jeden Tag.

      Ich vermisse

      diesen Mann.

      Seine Finger wandern

      über das Buch auf dem Tisch.

      Seine Hand streift den gebrochenen Buchrücken.

      »Hier gibt es keine Magie mehr«, sagt er.

      »Ich bin ein schlechter Mensch«, sagt er.

      Und geht davon.

      Raus aus der Küche,

      durch den Flur,

      in sein Zimmer.

      Ich folge ihm.

      Die Bücher auf seinem Regal halten den Atem an.

      Was wissen sie?

      Was haben sie ihn im Schlaf

      murmeln hören?

      Das Lächeln des Regals

      wird unter der Last

      zu einer Grimasse.

      Er dreht mir den Rücken zu.

      »Ich habe etwas Schlimmes getan, Mizuki.

      Ich kann es nicht länger verbergen.

      Deine Großmutter hat es verstanden.«

      Er hebt einen Arm

      und schlägt sich mit seiner Faust

      gegen die Brust.

      »Sie hat

      diesen

       Schmerz

      verstanden.

      Diese

      Schuld.

      Sie hat mir geholfen,

      sie zu tragen.

      Sie zu ertragen.

      Jetzt bin es nur noch ich,

      der sich erinnert.

      Doch ich bin alt und bald …

      werde ich sterben.

      Und dann …«

      Er streckt seinen Arm in die Luft.

      Er ballt die Finger

      Zu einer Faust.

      Dann


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