Waidmannsruh. Alexandra Bleyer

Waidmannsruh - Alexandra Bleyer


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Eine lockere Affäre, ja; aber alles, was nach ernsterer Beziehung klang, schlug ihn in die Flucht, wie Kerstin beklagte: »Mit dem is a Gfrett! Er kriegt schon Schnappatmung, wenn ich ihn als ›meinen Freund‹ vorstelle. Ich wette, wenn ich das Wort Heiraten ausspreche, ist er endgültig die Wolke!«

      Martin wusste nicht, wie er ihr beistehen konnte und was er ihr raten sollte. Mit Entsetzen dachte er daran zurück, als er ihr Anfang November eine Schulter zum Ausweinen angeboten hatte, was beinahe eine weitere Beziehungskrise ausgelöst hätte, nämlich mit Bettina. Denn als Michl abrupt einen geplanten Wochenendausflug abgesagt hatte – er hatte sich zu umklammert gefühlt, was immer das heißen sollte –, hatte Kerstin »ihren besten Freund (falls sie da noch ein ›in‹ angehängt hatte, hatte er es erfolgreich verdrängt) Martin« angerufen. Da er für Telefonseelsorge kein Talent hatte und man zudem kein Wort verstand, wenn das Gegenüber Rotz und Wasser heulte, war er mit der X-Large-Ausführung ihrer Lieblingsschokolade zu Kerstin gefahren. Aus dem kurzen Kaffee nach ihrem Dienstschluss war jedoch ein längeres Kummerbesäufnis geworden.

      »Vielleicht bin ich nicht fesch genug für ihn.«

      »Unsinn! Bei dir passt alles.«

      »Meinst du wirklich?«

      Mit ihren verschwollenen Augen und roten Flecken im Gesicht, was Martin auch auf die Heulerei zurückführte, hätte sie eine Hauptrolle in »Les Misérables« spielen können. Martin kam nur nicht drauf, welche. Die meisten Figuren waren so richtig jämmerlich, wenn er sich richtig erinnerte – was nach drei oder vier Gläsern Rotwein nicht mehr so sicher war –, aber es spielte auch ein Polizist mit. Da passte dann die Uniform, die Kerstin immer noch trug.

      »Du bist mein allerallerallerbester Freund. Aber irgendwie ja doch auch ein Mann. Bin ich unattraktiv? Findest du das?«

      Martin beugte sich zum niedrigen Couchtisch vor und griff sich eine Faust voll Soletti.

      »Finde ich was?«

      »Ein Ex hat gesagt, ich hätte zu wenig.« Dabei griff sich Kerstin an die Brust. »Vorn ein Brett und hinten ein Lattl!« Sie brach erneut in einen Weinkrampf aus.

      Martin nahm sie in den Arm, nutzte aber die freie Hand, um weiter Soletti zu futtern. Er fühlte sich furchtbar hungrig, eine Nebenerscheinung des übermäßigen Alkoholgenusses, wie er aus Erfahrung wusste. Er versuchte, auf die Uhr zu schielen. Es war höchste Zeit, heimzugehen, sonst würde Betti ihm Feuer unter dem Arsch machen. Er hatte versprochen, nur kurz bei Kerstin vorbeizuschauen. Doch jetzt war es schon … echt, halb elf Uhr abends?

      Als verständnisvoller Freund war Martin geblieben. Weniger Verständnis hatte Bettina aufgebracht, als er in den frühen Morgenstunden nach Hause geschlichen war und größte Schwierigkeiten gehabt hatte, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Seine Erklärung – Kerstin wollte Privates mit ihm besprechen – stellte Betti nicht wirklich zufrieden; mehr auszuplaudern, wäre für Martin jedoch nicht in Frage gekommen. Für das, was Kerstin ihm im Vertrauen geklagt hatte, galt quasi Beichtgeheimnis oder dienstliche Verschwiegenheitspflicht oder was auch immer.

      Immerhin hatte Martin mit reinem Gewissen beteuern können, dass zwischen Kerstin und ihm nichts Anrüchiges gelaufen war. Ziemlich verkatert war er denn ein weiteres Mal zum Spar gegangen und hatte für Bettina Blumen und eine Bonbonniere gekauft. Wohlweislich hatte er ihr nicht verraten, dass Kerstin und sie die gleichen süßen Vorlieben teilten. Das hätte sie gach in den falschen Hals gekriegt.

      Doch im Hier und Jetzt stand ein anderes, gewichtiges Problem an. Treichel. Der schaffte es glatt, dass sogar der Seriendieb kurzfristig an den Rand ihrer Aufmerksamkeit zurückgedrängt wurde. Das wollte was heißen!

      »Ist der Aufenthaltsraum sauber?«, fragte Martin.

      »Klar. Ich hab sogar die Zuckerdose entsorgt. Es gibt nur noch Süßstoff, und den wird er wohl nicht zåmfuttern.« Kerstin sah zu Martin hoch. »Hoffe ich.«

      Zuzutrauen war es dem Chef, denn er befand sich seit Jahresbeginn im Ausnahmezustand, sprich: Er war von seinem Arzt – »So ein Trottel! Hat der Jahre studieren müssen, nur um mir zu sagen, dass ich ein bisserl zu schwer bin? Das weiß ich eh selbst!« (O-Ton Treichel) – auf Diät gesetzt worden. Das Beratungsgespräch beim Arzt hätte er vermutlich locker ignoriert, allerdings hatte seine Frau ihn begleitet. Im Gegensatz zu ihrem Göttergatten nahm Regina Treichel die Warnungen des Mediziners vor bedenklichen gesundheitlichen Folgen äußerst ernst, und sie war lange genug mit ihm verheiratet, um ihn in- und auswendig zu kennen, ihren »Pappenheimer«. Anscheinend stimmte es, dass sich Eheleute mit den Jahren immer ähnlicher wurden und auch dieselben Lieblingsworte benutzten. Ob Bettina und ihm das auch passieren würde?

      Auf jeden Fall hatte Regina Treichel einen Auftritt am Polizeiposten hingelegt, der Geschichte schreiben würde – ehrlich: Martin hatte ihn in der wie in alten Zeiten handschriftlich geführten Chronik dokumentiert und hoffte, dass auch der Treichel darüber lachen würde, wenn er dereinst zufällig über den Eintrag stolpern sollte. Sie hatte ihm, fürsorglich wie sie war, einen bunten Salat mit fettarm gegrillten Hühnerstreifen gebracht – da saß der Chef aber schon im Aufenthaltsraum und futterte seine dritte Leberkässemmel mit extra Mayonnaise.

      Martin hätte nie gedacht, dass jemand den Zwei-Meter-Mann zåmschtauchen könnte, aber Regina, die fast zwei Köpfe kleiner war als ihr Mann, hatte gezeigt, wie das geht.

      »Und ihr« – hatte sie sich anschließend an Martin und Kerstin, die als unschuldig Anwesende zum Handkuss gekommen waren, gewandt – »solltets meinen Schorschi dabei unterstützen. Sonst könnts euch bald nach einem neuen Postenkommandanten umschauen!«

      Die Drohung wirkte. Einen anderen Chef als den Treichel konnte sich keiner am Posten vorstellen; jeder wäre im Vergleich zu ihm eine Verschlechterung.

      Alles, was Georg Treichel kalorienmäßig in Verführung führen konnte, wurde verbannt – oder zumindest vor ihm versteckt, seine Einwände elegant ignoriert. Denn obwohl der Chef eine Autoritätsperson war: Mit seiner reschen Frau wollte sich keiner anlegen. Die könnte locker die Weltherrschaft übernehmen.

      Das hatte sie vor drei Stunden erneut unter Beweis gestellt: Sie hatte Treichel zu einem von einem Diätexperten geleiteten Abnehmkurs angemeldet, dessen Vorbesprechung am heutigen Donnerstag stattfand und regelmäßige wöchentliche Treffen vorsah. Freilich hatte der Chef, als sie ihn anrief und daran erinnerte, durchaus zu Recht Arbeitsüberlastung vorgeschoben. »Schatzi, heute geht es beim besten Willen nicht! Du weißt doch, mit diesem Dieb haben wir alle Hände voll zu tun! Da kann ich nicht weg.«

      Das ließ sie nicht gelten. Keine halbe Stunde später war sie aufgekreuzt, hatte den vor ihm liegenden dicken Akt elegant ignoriert – deine Gesundheit geht vor – und ihn abgeführt. Ein Sondereinsatz der Cobra war nichts dagegen!

      Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss, und Treichel stampfte durch den Flur in den Aufenthaltsraum. Martin verzog den Mund, als gleich darauf die Kastentüren der dortigen Einbauschränke geknallt wurden.

      »Gibt’s hier gar nix mehr zu essen?«, brüllte er.

      Kerstin lachte. »Komm«, flüsterte sie ihm zu. »Willst das verpassen?«

      Mit einem eher mulmigen Gefühl folgte Martin ihr hinüber.

      Treichel lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank. Er hielt eine Packung nackerter Reiswaffeln in der Hand und starrte intensiv auf diese, als ob er sie dazu bringen könnte, sich in eine Wurstsemmel zu verwandeln.

      »Ist das alles, was wir haben?«

      »Jaaa«, antwortete Kerstin, nahm ihm die Packung aus der Hand und riss sie auf.

      Sie zerbrach eine Reiswaffel – allein das knirschende Geräusch ließ Martin erschaudern, das Zeug klang ja schon staubtrocken – und steckte sich ein Stück in den Mund. Dann reichte sie Treichel die andere Hälfte.

      »Es gibt Schlimmeres«, ermunterte sie ihn mit vollem Mund. »Die mit Schokoüberzug sind besser, aber« – sie grinste den Chef an – »leider aus.«

      Sie griff sich noch eine und hielt dann Martin die Packung hin. Bevor er dankend ablehnen


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