Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman


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betrachtete sie ihren Freund, der die letzten zwei Wochen Urlaub genommen hatte, um zu rudern. Unter seiner sommerlichen Bräune sah er fahl aus, und seine Augenringe hatten sich vertieft.

      »Hast du dich denn in New York nicht ein bisschen erholt? Ich dachte, das wäre der Sinn eines Urlaubs.«

      Rock schüttelte den Kopf. »Diese ewigen Grillen. Und je mehr ich trainiert habe, desto schlechter konnte ich schlafen. Aber trotzdem geht es mir ganz gut.«

      »Mir geht es auch ganz gut.« Das war nur eine halbe Lüge. Körperlich ging es ihr nämlich prächtig.

      »Na, wenn du so gut in Form bist, wollen wir doch mal auf dem Rückweg ein Rennen machen, wer als Erster an der Glasfabrik ist. Verlierer zahlt das Frühstück.«

      »Mach keine Witze. Ich würde wahnsinnig viel Vorsprung brauchen, damit es überhaupt ein Rennen wird. Wir können ja ein Autorennen auf der Hanover Street Bridge machen, wenn du unbedingt so was brauchst.«

      »Ich geb dir fünfhundert Meter Vorsprung.«

      »Das genügt auf dieser Strecke nicht. Du würdest mich auf halbem Weg überholen.«

      »Also gut, tausend.«

      »Um das Frühstück? Aber du lädst mich doch sowieso immer zum Frühstück ein.«

      »Heute lade ich dich nicht ein, wenn du es nicht wenigstens versuchst.«

      »Oh.« Mag ja sein, dass Armut manche Menschen adelt. Zu denen gehörte Tess jedenfalls nicht. Sie überlebte nur dank eines ausgeklügelten Systems von Nettigkeiten und Einladungen, wodurch sie knauserig und ein bisschen verwöhnt war. »Na gut, du kriegst dein Rennen.«

      »Fahr, als wäre es ein wirklich wichtiges Rennen. Ich fahre nicht eher los, als bis ich dich unter der Brücke verschwinden sehe.«

      Tess brachte ihr Boot in Stellung und rutschte mit ihrem Sitz nach vorn. Sie fuhr keine Rennen mehr, außer gegen sich selbst, aber die Routine war ihr zur zweiten Natur geworden.

      »Leg los«, rief Rock. »Versuch, einen vollen Zehnerschlag aufzubauen.«

      Das Wasser war ruhiger geworden, und so fand Tess schnell ihren Rhythmus. Sie ruderte so, wie sie es in alten Zeiten in ihrem Achter getan hatte, und folgte den Befehlen einer nicht vorhandenen Steuerfrau. Zehn Schläge lang volle Kraft, alles, was sie aufbieten konnte, dann zehn Schläge nur mit den Beinen. Sie durchfuhr den Schatten unter der Hanover Street Bridge und kam wieder ans Licht, und jetzt fühlte sie sich zuversichtlich und locker.

      Da sah sie plötzlich Rock näher kommen. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht ein wenig trödeln und ihr einen kleinen Vorteil lassen, aber Rock konnte nicht anders, als alles zu geben. Eine Art von Zuverlässigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Er durchfuhr das Wasser mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer so perfekten Technik, dass Tess am liebsten angehalten und ihm zugesehen hätte. Aber sie musste weitermachen. Es ging um Blaubeerpfannkuchen oder vielleicht sogar um ein Western Omelett.

      Auf Höhe des Bootshauses schoss Rock an ihr vorbei. In einem Rennen zieht normalerweise ein Boot Stück für Stück an einem anderen vorbei, und der Steuermann schreit den Ruderern, die überholt werden, Beleidigungen zu. Rock dagegen schien an Tess mit einem einzigen Schlag vorbeizufliegen. Sie konnte einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, das grimmig und fast grausam aussah, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.

      Verbissen ruderte sie weiter. Hinter sich hörte sie den Lärm der Glasfabrik, einer übel aussehenden Stätte, die Schwaden von heißer Luft über den Fluss schickte. Dort schienen immer Dutzende von Feuern zu brennen, egal, zu welcher Tageszeit man vorbeiruderte, und doch war nie ein menschliches Wesen zu sehen. Tess ruderte auf diese Feuerwand zu und legte alle Kraft in die letzten dreißig Schläge. In den Armen fühlte sie ein Stechen von der vielen Milchsäure, die sich dort in ihren Muskeln bildete, und es kam ihr so vor, als müsse jeder Schlag ihr letzter sein. Rock hatte natürlich gewonnen, aber sie musste das Rennen zu Ende bringen. Gerade als sie dachte, sie könne keine einzige Bewegung mehr machen, glitt sie an seinem wartenden Boot vorbei.

      Als sie aufsah, hatte Rock sich vorgebeugt, und seine Schultern zuckten. Er verausgabte sich oft so sehr, dass er sich erbrechen musste, und Tess war daran gewöhnt, ihren Freund mit ein wenig Speichel auf dem Kinn zu sehen. Ihr selbst war auch etwas übel. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, paddelte sie nach vorn, wobei sie sich freute, dass sie ihm so viel abverlangt hatte.

      Aber Rock übergab sich gar nicht, er weinte. Vornübergebeugt, das Gesicht auf den riesigen Schenkeln, bebte er am ganzen Körper in heftigen, stillen Schluchzern. Von hinten hatte er auf Tess gewirkt wie jeder Ruderer nach einem harten Training. Aus irgendeinem Grund musste sie an Moses und den brennenden Dornbusch denken. Es war faszinierend und bizarr. Sie streckte die Hand über das Wasser und versuchte, ihn beruhigend zu tätscheln. Ihre Hand rutschte an seinem Trizeps ab, als hätte sie versucht, einen Baum oder eben einen Felsen zu streicheln, wie Rocks Name schon sagte.

      »Entschuldige«, sagte er.

      Tess machte sich an ihren Ruderdollen zu schaffen, verlegen und unbeholfen.

      »Ava«, sagte er knapp.

      Ava. Seine Verlobte. Tess hatte sie vergangenes Frühjahr bei den Rennen kennengelernt. Wenn sie dabei war, schien Rock nie gut abzuschneiden. Vielleicht war das gar nicht Avas Schuld, aber trotzdem wäre sie nicht die Frau gewesen, die Tess für ihn ausgesucht hätte. Auch nicht die Frau, die seine Mutter für ihn ausgesucht hätte, oder seine Kollegen, oder sonst jemand, dem an seinem Glück lag, da war sich Tess sicher. Ava war Rechtsanwältin, gut aussehend, tüchtig – und eine richtige Zicke, auf eine Art, die nur eine andere Frau wirklich begreifen kann. Obwohl sie sich schon dreimal gesehen hatten, konnte sie sich nie an Tess’ Namen erinnern.

      Aber Tess sagte nur: »Ava?«

      »Ich glaube, sie hat …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Schwierigkeiten.«

      »Was für welche denn?«

      »Irgendwelche, über die sie nicht reden kann. Wenn ich sie spätabends anrufe, ist sie nicht zu Hause, aber auch nicht im Büro. Sie hätte in der zweiten Woche in die Adirondacks nachkommen sollen, aber sie rief in letzter Minute an und sagte, es gebe bei ihrer Arbeit einen Notfall. Ihr Chef, dieser Abramowitz, zwingt sie, sich zu Tode zu schuften wegen dieser Asbestfälle.«

      Tess konnte sich noch gut erinnern, wie stolz er gewesen war, als Ava den Job bei O’Neal, O’Connor & O’Neill bekommen hatte, und wie stolz er war, dass der extravagante neue Partner Michael Abramowitz sie zur Assistentin haben wollte.

      »Aber das ist doch klar, oder? Das ›Tri O‹ ist ’ne ziemlich hoch aufgehängte Anwaltskanzlei, und diese Fälle mit dem Asbest reißen einfach nicht ab.«

      »Ja, vor allem, wenn einer der wichtigsten Klienten Sims-Kever ist, der lieber eine Million Dollar Anwaltskosten zahlen würde, als auch nur einen einzigen müden Dollar Schadenersatz an so einen alten Typ, der keine Luft mehr kriegt.«

      Rock zupfte an einer seiner Schwielen herum. »Die Sache ist nur, Ava war vorige Woche gar nicht bei der Arbeit. Ich habe angerufen, und die Sekretärin sagte mir, dass sie Urlaub habe. Ich bin mir aber sicher, dass es trotzdem eine ganz einfache Erklärung dafür gibt.«

      »Warum fragst du sie dann nicht einfach?«

      »In dieser Hinsicht ist Ava ein bisschen komisch. Wenn ich sie fragen würde, würde sie das so verletzen, dass …« Er schüttelte den Kopf, als könne Tess sich gar nicht vorstellen, wie Ava war, wenn sie sich verletzt fühlte, wie aberwitzig einschüchternd und anbetungswürdig. »Sie ist sehr empfindlich.«

      Sie trieben in der leichten Strömung. Hier, in einer kleinen Bucht in der Nähe des Jachthafens, war das Wasser glatt. Tess suchte nach etwas, was sie sagen konnte, etwas, was diesem Gespräch ein Ende setzen und sie näher an ihre Blaubeerpfannkuchen bringen konnte. Avas Verhalten legte alle möglichen Vermutungen nahe, die aber alle wenig schmackhaft für Rock wären.

      »Ich bin überzeugt, dass sie einen guten Grund hat«, sagte sie schließlich.


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