Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
Kimono wieder über die linke Schulter hoch.
»Sei bloß nicht so süffisant, nur weil du jeden Abend von deinem Leutnant Strahlemann in den Arm genommen wirst. Manche Leute schlafen eben auch gern allein, verstehst du?«
»Vielleicht taucht ja Jonathan bald mal wieder auf. Ist schon ’ne Weile her, oder?«
»Ich habe auf Jonathan seit Beginn der Fastenzeit verzichtet.«
»Und an Yom Kippur wirst du ihm dann wieder verzeihen. Du hast es schon immer geschafft, alles aus deinen beiden Religionen herauszuholen, Tesser, schon als du noch ein kleines Mädchen warst.«
Und damit schwang sich Kitty von der Theke, marschierte in den Wohnbereich hinter dem Laden und überließ Tess sich selbst, sodass sie über Jonathan Ross nachdenken konnte. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ihr fehlen könnte, bis Kitty ihn jetzt erwähnte. Yom Kippur, der Tag der Buße, war nächsten Monat. Und Jonathan hatte für mehr Buße zu tun als sie, für viel mehr.
Ihre Gedanken wurden zerstreut, als Crow, einer der Angestellten, an der vorderen Eingangstür klopfte.
»Na, heute nur zwei Stunden zu früh«, sagte Tess, als sie ihm aufmachte, und kam sich dabei etwas gemein vor. Crow, der in Kitty verknallt war, tauchte oft schon um sieben Uhr zu seiner Vormittagsschicht auf und blieb bis spät abends, damit beschäftigt, die Lagerbestände zu computerisieren.
»Ja, also, ich dachte, ich könnte vielleicht hier frühstücken.« Er hielt eine etwas fettfleckige Tüte Donuts und eine Flasche Orangensaft in die Höhe. Auf dem Rücken trug er einen ziemlich ramponierten Gitarrenkasten. »Ich mag das Morgenlicht hier drin. Es ist für mich so … inspirierend.«
Tess hatte fast Mitleid mit Crow, denn er war einfach nur der Neueste in einer langen Reihe von Aushilfskräften, die sich in Kitty verliebten. Die Kunststudenten von Marylands Institute of Art schienen besonders anfällig dafür zu sein. Aber ihr Mitleid wurde von einer unbestimmten Verärgerung gedämpft. Sie würde er nie so anschauen, mit seinen feuchten braunen Augen und seinem hübschen Mund. Crow schwang sich auf die Theke, als würde er ganz automatisch von dem Platz angezogen, an dem noch vor ein paar Minuten Kittys Kimono verrutscht war. Ohne sich um sein Frühstück zu kümmern, nahm er seine Gitarre heraus und fing an zu spielen. Etwas Selbstkomponiertes, urteilte Tess, oder die besonders schlechte Interpretation von etwas Bekanntem.
»Ich schreibe gerade einen Song«, erzählte er ihr.
»Da bist du nicht der Erste. Aber denk daran – es reimt sich praktisch nichts auf Kitty.«
»Nicht unbedingt.« Er schlug ein paar Töne an und fing an zu singen. Seine Stimme war zwar dünn, aber charmant und echt. »Ach, vor Kurzem traf ich Kitty / Die schönste Frau der ganzen City / Tapocketa. Tapocketa. Tapocketa / Ich bin schon fast ein Held.«
»Wenn du etwas findest, was sich auf Monaghan reimt, bin ich wirklich beeindruckt.«
»Wenn ich etwas finde, dann könnte ich ja auch für dich einen Song schreiben«, sagte Crow und grinste sie an. »Es gibt so viel, was sich auf Tess reimt.«
»Stress«, sagte sie. »Darauf reimt sich hauptsächlich Stress.«
Damit überließ sie Crow seinen Donuts und seinen Träumen und ging die Hintertreppe zu ihrem Apartment hinauf. Sie war steil, denn die unteren beiden Stockwerke waren ziemlich hoch, und so war es fast, als müsse man vier Stockwerke erklimmen. Als Kitty das Gebäude renovierte, wollte sie das zweite Stockwerk vermieten, um ihre Hypothek leichter abzahlen zu können. Tess als erste und einzige Mieterin zahlte weitaus weniger, als Kitty auf dem freien Wohnungsmarkt hätte verlangen können.
Die Wohnung war klein und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Raum, der durch Bücherregale unterteilt war. Der Wohnbereich war gerade groß genug für einen Schreibtisch, einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch im Kolonialstil, den sie zum Essen benutzte. Die Küche bestand nur aus einer Kochnische mit einem winzigen Kühlschrank und einem Herd mit zwei Flammen. Man musste sie durchqueren, um ins Schlafzimmer zu gelangen, den größten Bereich. Auch das war schlicht und bot nur Platz für ein massives Doppelbett, einen kleinen Tisch und eine Spiegelkommode.
Dennoch besaß das Apartment noch etwas ganz Besonderes: eine Terrasse vor dem Schlafzimmer mit einer Leiter aufs Dach. An diesem Morgen stieg Tess sofort hinauf, in der Hoffnung, dass die Aussicht ihren Geist erweitern und klären werde, damit sie sich auf ihren seltsamen neuesten Job konzentrieren konnte.
Sie bevorzugte den Blick nach Osten, auf die Fabrikschornsteine und das neonrote Emblem auf dem Domino-Sugar-Hochhaus, mit dem Rücken zur Altstadt und zu Baltimores berühmter Uferpromenade. Mit diesem Teil von Baltimore, der als Attraktion für die Touristen neu gestaltet worden war, konnte Tess überhaupt nichts anfangen. Ihrer Ansicht nach gab es hier kaum einen Unterschied zu den vorherigen Stripteasebars, die keinen Eintritt verlangten, dafür aber drinnen die Preise für alles umso höher ansetzten. Sie hatte manchmal Albträume, bei denen sie in einen Kopf aus Pappmaschee eingesperrt war und Leute begrüßen musste: »Na, Süßer, wie geht’s? Na, Süßer, wie geht’s?«
Tess sah noch einmal die Adressen durch, die Rock ihr gegeben hatte. Avas Leben war fein säuberlich unterteilt. Sie wohnte in einer Eigentumswohnanlage auf der einen Seite des Hafens. Sie arbeitete auf der anderen Seite für die angesehene Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor und O’Neill. Sie konnte in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gehen – falls Ava überhaupt jemals zu Fuß ging.
Das Foto war grob zu einem Oval geschnitten, was die ungeschickte Hand eines Mannes verriet. Wahrscheinlich hatte es in einem Rahmen neben Rocks Bett oder auf seinem Schreibtisch gestanden. Ein Foto von einer Frühlingsregatta, auf dem Ava neben Rock stand. Er trug ein rotes T-Shirt und schwarze kurze Ruderhosen aus Lycra. Sie hatte ein nagelneues T-Shirt mit Marinestreifen an, das aussah, als hätte es mehr gekostet als Tess’ bestes Kleid. Ihre Rechte konnte Rocks Handgelenk nicht einmal ganz umspannen, trotzdem schien sie ihn fest in der Hand zu haben. Ihr Haar schwebte wie eine dunkle Wolke um ihr Gesicht, ein Gesicht, das so vollkommen war, dass man leicht verstehen konnte, warum ihre Eltern es gewagt hatten, sie nach einer Göttin der Erotik zu benennen. Ava kam in ihrem Leben dieser Vorgabe nach.
Tess kannte sich mit schönen Frauen aus. Seit sie lebte, war sie von ihnen umgeben – ihre Tante, ihre Zimmergenossin auf dem College, Whitney, sogar ihre Mutter. Einige waren großzügig und erlaubten einem, sich in ihrem Glanz zu sonnen. Andere waren abweisend und erreichten immer, dass man sich neben ihnen dick und ungeschickt vorkam. Ava gehörte zu Letzteren.
Mit neunundzwanzig hatte Tess Frieden mit ihrem Gesicht und ihrem Körper gemacht. Sie war nicht schön, aber ihr Aussehen tat ihr gute Dienste. Sie hielt alles einfach: lange braune Haare, auf dem Rücken zu einem Zopf geflochten, kein Make-up in ihrem blassen Gesicht oder um ihre hellbraunen Augen, Kleidung, die auf Bequemlichkeit und schnelle Bewegung zugeschnitten war. Eins stand jedenfalls fest: Sie besaß die richtige Garderobe für eine Spionin – ganze Schubladen voll alter, ausgebeulter Sachen in dunklen Farben. Sie verstand es, sich unsichtbar zu machen.
3
Ava wohnte in Eden, genauer gesagt, im Eden’s Landing, einer Wohnanlage mit nicht allzu vielen Stockwerken, errichtet aus rosa Marmor und Glasbausteinen, in der Nähe des National Aquarium. Unhistorisch und unsymmetrisch, war es der Sonnenpyramide in Tenochtitlán nachempfunden und hätte irgendwo zwischen San Diego und Malibu bestimmt ganz gut ausgesehen. Doch hier in der Hafengegend von Baltimore wirkte das Gebäude, als würde es vor seinen Nachbarn zurückschaudern und seine Terrassen ganz eng an sich ziehen. Eden’s Landing schien die Vorstellung, hier in Baltimore gelandet zu sein, als Horror zu empfinden. Was Tess betraf, so beruhte dieser Horror auf Gegenseitigkeit.
Sie hatte an einer Bushaltestelle in der Pratt Street Position bezogen, weil sie dachte, von dort aus könne sie Ava in ihrem Mazda Miata am besten aus der Tiefgarage kommen sehen. Nach Rocks Aufzeichnungen müsste sie um 7:15 Uhr zur Arbeit gehen. Um genau 7:20 Uhr erschien Ava zu Fuß. Gleich die erste Überraschung des Tages, dachte Tess. Tatsächlich erleichterte das die Sache für sie, da sie ihren Toyota auf einem Parkplatz auf der anderen Seite der President Street abgestellt