Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman


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zurück. Es ist einfach nicht ganz so perfekt wie ich, schien sie zu sagen.

      Sie machte weiter mit ihrem Schaufensterbummel; viele Läden betrat sie nur, um die Ware mit Verachtung zu strafen. Immer wieder sah Tess sie etwas hochhalten – eine Tasche, ein Kleid, ein Tuch, einen Gürtel – und es dann wieder mit demselben bezaubernden Kopfschütteln zurücklegen. Nichts passte ihr. Je teurer der Gegenstand war, desto mehr schien es sie zu betrüben.

      Bei Victoria’s Secret kam Tess Ava so nahe, wie sie es nur wagen konnte, und versteckte sich hinter einem Regal mit Push-up-BHs. Ava ließ ihre Hand über einen Verkaufstisch mit Unterwäsche gleiten, zog sie dann aber zurück, als habe der Polyesterstoff ihre Haut beleidigt. Und doch streckte sie sie gleich wieder aus und strich womöglich noch leichter über einen Stapel von burgunderroten Höschen. Diesmal fielen zwei Paar davon in ihre offene Aktentasche.

      Tess blinzelte vor lauter Schreck mit den Augen. Die warnenden Worte ihrer Tante fielen ihr sofort wieder ein. Die Unterwäsche musste wohl zu Boden gefallen sein. Oder Ava benutzte ihre Aktentasche als Einkaufskorb und hatte vor, am Ende für alles zu bezahlen.

      Sie konnte keine Diebin sein.

      Ava ging zu einem Tisch voller Hemdchen und wiederholte denselben Trick. Berühren, zurückziehen, einstreichen – in die Aktentasche! Wenn Tess richtig mitgezählt hatte, besaß Ava jetzt zwei Paar Höschen in Burgunderrot und drei smaragdgrüne Unterhemdchen. Eine Verkäuferin näherte sich ihr, als sie die Spitze an einem Nachthemd befühlte, und Ava hob die rechte Hand in einer freundlichen, aber deutlichen Warnung. »Ich schaue mich nur um«, deutete sie mimisch an und verließ schnell den Laden. Niemand hielt sie auf.

      Ava, die Ladendiebin. Vielleicht war sie einfach nur mit den Nerven völlig runter, dachte Tess. Ava, die Kleptomanin. Das könnte ihr seltsames Benehmen Rock gegenüber erklären. Aber war der Ladendiebstahl das Problem selbst oder nur ein Symptom? Und wenn er das Problem war, wie erklärte man damit die Tatsache, dass sie nachts nicht zu Hause war, oder den abgesagten Urlaub? Gehörte sie vielleicht zu irgendeinem seltsamen Verbrecherring, oder war sie einfach nur eine gelangweilte Anwältin, die sich in ihrer Mittagsstunde ein paar Kicks verschaffen wollte?

      Rock wäre das egal. Er wäre mit diesem Bisschen Information schon zufrieden, würde sich geradezu darauf stürzen. Tess ging es anders. Instinktiv ahnte sie, dass das nur ein Teilchen aus einem ganzen Puzzle war, ein Schlüssel zu einer Tür, die sie noch nicht gefunden hatte. Eine einzige Tatsache war wie eine unreife Avocado, etwas, das man nicht drängen kann. Man wendete sie in Mehl und wartete ab.

      So in Gedanken versunken, bemerkte Tess gar nicht, dass Ava weitergegangen war. Sie sah sie erst wieder, als sie gerade ein Stockwerk weiter unten von der Rolltreppe trat. Tess versuchte ihr schnell zu folgen, aber die Rolltreppe war mit gedankenlosen Touristen vollgestopft, mit der Art von Leuten, die sich nicht rechts in die Reihe stellen, damit andere links vorbeigehen können, sondern davon ausgehen, dass jeder gerade Urlaub hat. Wenn sie jetzt keine Leute durch die Gegend werfen wollte, musste sie einfach abwarten, bis sie an der Reihe war, die drei Meter gerippten Gummi zu überqueren, die Ava bereits überschritten hatte.

      Als Tess endlich das Erdgeschoss erreichte, war Ava verschwunden. Tess glaubte noch, sie am Ende des Gebäudes zu erspähen, wo die Läden aufhörten und die Hotellobby begann. Aber nein, da war kein Aufblitzen von Karminrot oder Perlgrau, keine Aktenmappe, die von grünen Hemdchen und burgunderroten Höschen überfloss, keine dunklen Haare.

      Ava war verschwunden.

      Tess rannte nach draußen, in der Annahme, sie könne sie da doch noch aufspüren. Möglicherweise kehrte sie in ihr Büro zurück, um Todesanzeigen in die Akten der Asbestopfer einzuordnen oder wieder einmal einen unglücklichen Angehörigen abzuwimmeln. Oder sie war vielleicht bei dem kleinen Amphitheater auf der anderen Straßenseite stehen geblieben, wo in den warmen Monaten Jongleure und Feuerschlucker auftraten. Aber als sich Tess einen Weg durch den Halbkreis von glotzenden Touristen gebahnt hatte, gab es da gar keine Darbietung, sondern nur einen alten Mann, der auf dem heißen Gehsteig schlief.

      »Ob der tot ist?«, fragte eine Frau unbestimmt in die Runde.

      Angewidert riss sich Tess die Gabor-Perücke vom Kopf, sodass ihr verdrücktes, vom Schweiß an den Kopf geklebtes Haar zum Vorschein kam. Drei skandinavische Studenten missverstanden das als Eröffnungsgag einer Straßendarbietung und warfen ihr einen Dollarschein zu, wobei sie wie wild applaudierten.

      »Was glaubt ihr denn, was das werden soll, vielleicht der mickrige Abklatsch so einer Pornoshow vom Block?«, fragte Tess. »Oder eine Kunstperformance, die meine Verehrung für Blaze Starr ausdrücken soll?«

      Die Studenten klatschten und schrien etwas, was in ihrer Muttersprache wahrscheinlich »Weitermachen, weitermachen, weitermachen« hieß.

      Tess ließ die Perücke in ihrer Hand baumeln und schaute auf den Dollarschein auf dem Pflaster hinunter. Das blonde Trio, mit von Sonnenbrand geröteten Gesichtern, sah sie erwartungsvoll an. Sie wollte den Geldschein schon zurückwerfen, überlegte es sich dann aber anders. Sie hatte der alten Frau auf der Bank ihren letzten Dollar gegeben. Dieser Schein hier würde zusammen mit den Münzen in ihrer Hosentasche für eine Tüte Pommes frites reichen. Tess wirbelte die Perücke herum, steckte das Geld ein, warf ihren skandinavischen Bewunderern eine Kusshand zu und rannte zu den Verkaufsständen. Die Beschattung konnte warten.

      Jetzt war erst mal Mittag.

      4

      Achtzehn Jahre lang hatte Tess’ Onkel Donald so etwas wie ein bewegliches Ziel in der Staatsregierung dargestellt und war von einem Nichtstuerjob zum anderen gesprungen, immer um eine Nasenlänge den Gesetzgebern voraus, die ihn in gelegentlichen Anfällen von Verantwortungsgefühl für den Verbleib der Steuergelder einsacken wollten. Sein neuester Ruheplatz war ein kleines Büro ganz oben, zumindest im wörtlichen Sinn, in der Abteilung für Lizenzen und Konzessionen. Sein offizieller Titel: Direktor des Ressorts für Betrug und Verschwendung. Seine Stellvertreterin: Tess.

      »Weißt du, das klingt, als würdest du Betrug und Verschwendung betreiben«, sagte Tess, als sie das Büro ihres Onkels betrat. Es war klein, besaß aber ein Fenster auf den St. Paul Place hinaus, mit einem hübschen Blick auf einen langen, schmalen Grünstreifen, der von Unkraut überwuchert und fast erstickt war.

      »Sollte ich vielleicht auch«, sagte er liebenswürdig. »Ich hätte nichts dagegen. Zumindest wäre ich dann den Tag über beschäftigt.«

      Donald Weinstein, ein kleiner Mann mit rundem Bauch und dünner werdenden braunen Haaren, war in seiner Jugend eine Schönheit gewesen, aber sein gutes Aussehen war gleichzeitig mit seiner Macht geschwunden und hatte nur noch einen vollen Schmollmund und glänzende braune Augen hinterlassen, was gar nicht zu seinem blassen, faltigen Gesicht passte. Er reichte seiner Nichte einen schmalen Ordner, der für ihn die Arbeit einer Woche bedeutete. Tess setzte sich auf den braunen Plastikstuhl vor seinem Schreibtisch und blätterte Notizen und Aufzeichnungen der anderen Abteilungen durch.

      »Sehr eindrucksvoll«, sagte sie. »Hier steht, dass im Gesundheitsamt eine niedrigere Wasserrechnung erreicht wurde, indem man einen undichten Hahn reparieren ließ. Das Arbeitsamt hat billigere Donuts für das monatliche Angestelltentreffen gefunden. Und das Umweltministerium hat seine gebührenfreie Rufnummer für Infos über den gezeitenabhängigen Wasserstand in den Feuchtgebieten gekappt, die eh nie jemand benutzte, außer den Angestellten selbst, die angestiefelt kamen und dort ihre Ferngespräche führten. Was wird Maryland denn mit diesem ganzen Haufen zusätzlichem Geld machen?«

      Unter Tess’ Händen und an ihrem Computer würden sich diese Dinge in Pressemitteilungen verwandeln. Gesundheitsministerium senkt Kosten und handelt umweltbewusst! Oder, im Fall der Donuts: Linda Fair, aufgeweckte Angestellte des Arbeitsamts, fand heraus, dass Neuabschlüsse mit Versorgungsunternehmen zu beträchtlichen Einsparungen führen können. Sie schrieb immer zwei Ausfertigungen – eine zur Verteilung innerhalb der Ämter, die andere als Pressemitteilung. Die Sache aus dem Umweltamt würde sie auf dem zweiten Blatt weglassen, weil auf der Notiz der Stempel NFMB (nicht für die Medien bestimmt) stand. Es gab keinen Anlass, die Medien auf solche Ferngespräche hinzuweisen. Für


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