Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman


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Reis tatsächlich immer der beste war.

      Tess verbrachte das Wochenende in der Buchhandlung und versuchte, die Stunden hereinzuholen, die sie Kitty noch schuldete. Nur zu bald war wieder Dienstag und damit Zeit, den inzwischen vertrauten Posten vor Eden’s Landing wieder einzunehmen. Dann Mittwoch, Donnerstag. Die Tage verstrichen ohne Ereignis. Ava ging zur Arbeit, ging zum Mittagessen, ging zurück zur Arbeit, ging nach Hause. Am Mittwoch traf sie sich mit Rock zum Abendessen, und Tess nahm sich den Abend frei. Später, als sie noch einmal mit Rock telefonierte, erzählte er ihr, dass Ava noch immer gereizt sei und ihm ausweiche und dass sie den Abend früh habe enden lassen, mit Klagen über viel Arbeit und entsetzliche Kopfschmerzen. Als Tess den Schmerz in seiner Stimme hörte, fragte sie sich kurz, ob sie ihm von den Ladendiebstählen berichten solle. Aber dann wäre alles wieder vorbei, und Tess merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie noch nicht so weit war, die Sache aufzugeben.

      Am Freitagvormittag saß sie auf ihrer Bank vor Avas Büro und beobachtete, wie die Polizei Bettler aufscheuchte. Bettler gab es schon immer in der Innenstadt von Baltimore – Tess konnte sich noch gut erinnern, wie ein Mann ohne Beine sie, als sie acht Jahre alt war, am Lexington Markt auf seinem kleinen Rollwagen die ganze Straße hinunter gejagt hatte –, aber jetzt war ihnen der Krieg erklärt worden. Die Stadt hatte »Sicherheitskräfte« eingestellt, die durch die Straßen patrouillierten und sie damit sicherer und netter machten, jedenfalls für diejenigen, die nur nach dem Weg fragen wollten. Die Stadtstreicher nannten diese Sicherheitskräfte die »Roten«, nach deren schicken Mützen. Vielleicht dachten die Stadtoberen, dass sie ihre neue Footballmannschaft wieder verlieren könnten, wenn die National Football League herausfand, dass es in Baltimore Bettler gab. Andererseits wäre das ein großartiger Name für das Team: die Baltimore Beggars. Nein – die Baltimore Hollow Men. Wenn doch nur T.S. Eliot anstelle von Poe hier in Charm City gestorben wäre, dann hätte es statt der Raben die Hohlen Männer geben können.

      Die meisten Bettler gingen friedlich davon, einschließlich Tess’ Banknachbarin, die ihr jeden Tag einen Dollar abgeluchst hatte, mit immer derselben Tour. Aber die Polizisten oder die Roten fragte sie nicht, ob sie ihnen Angst mache, sie verschwand einfach. »Ich weiß, was ich mache, damit ich nicht eingesperrt werde«, flüsterte sie Tess zu, als sie davoneilte, und zwar überraschend klar im Kopf. »Ich geh zu McDonald’s rein.« Erstaunt sah Tess ihr nach. Sie glaubt, ich sei eine von ihnen.

      Ein paar Meter neben ihr weigerte sich ein Herr in einem abgewetzten blauen Anzug, seinen Platz aufzugeben. Er war groß und dünn, hatte eine vorzügliche Haltung und wiederholte immer wieder: »Ich bin von der Ostseite mit dem Auto herübergekommen, aber meine Batterie ist leer. Deswegen brauche ich jetzt nur vier Dollar, um mit dem Bus zurückzufahren.«

      Tess kannte diese Worte; sie wurden in der Stadt besonders gerne benutzt. Die meisten Bettler probierten es damit und gingen dann wieder. Doch dieser Mann hier wollte nicht aufgeben, egal, wie sehr ihm die Bullen auch schmeichelten oder drohten. Sie ließ sich von diesem Bild so sehr gefangen nehmen, dass sie fast nicht bemerkt hätte, wie Ava aus dem vorderen Eingang kam. Sie wandte sich in Richtung Galerie, die Aktentasche in der Hand. Aber statt eines ihrer perfekten Kostüme – Tess hatte sie bisher in Grau, Schwarz, Rot und einem erstaunlichen Ton von Olivgrün gesehen – trug sie ein pflaumenfarbenes Kleid, ein seltsames Stück mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln. Seltsam deshalb, weil es bei dieser Länge und diesem Schnitt eigentlich streng und konservativ hätte wirken müssen. Aber dieses Kleid strahlte Sex aus. Wie nannte Kitty diesen Stil? Ein Ausziehkleid, wie geschaffen dafür, mit einer einzigen heftigen Bewegung vom Körper gerissen zu werden.

      In der Galerie machte sich Ava nach einer kurzen Aufwärmphase an ihr Diebstahlprogramm. Tess sah zu, wie sie wieder bei Amaryllis dasselbe silberne Halsband bewunderte, wie sie bei Ann Taylor einen Kaschmirpullover streichelte, wie sie bei manchen Waren abfällig lächelte oder zurückschauderte, bei Sachen, für die zu bezahlen sie sich niemals herablassen würde, obwohl sie sie eventuell für einen Diebstahl in Betracht ziehen mochte. Sie liebte es, Dinge zu berühren. Die Berührung schien ihr sogar mehr Vergnügen zu bereiten als der eigentliche Moment des Diebstahls; wenn wieder ein kleiner, glanzvoller Gegenstand den Weg in ihre ausgehungerte Aktentasche nahm. Tess war gespannt, was sie heute stehlen würde, aber nach einem kurzen Besuch im Coach, wo sie eine tannengrüne Aktentasche streichelte, die ihrer eigenen glänzendschwarzen aufs Haar glich, sah Ava auf die Uhr, verließ sofort den Laden und ging schnurstracks auf die Lobby des Renaissance Park Hotels zu, genau wie am ersten Tag.

      Im Verlauf der vergangenen Woche hatte Tess im Beschatten von Ava ziemlich viel Übung bekommen. Sie blieb mindestens sechs Meter hinter ihr, den Blick auf einen Punkt etwa ein bis zwei Meter vor ihr gerichtet, die Kleidung dunkel und unauffällig. Um ihre Haare machte sie sich überhaupt keine Sorgen mehr, allerdings trug sie als besondere Vorsichtsmaßnahme eine Sonnenbrille. Hauptsächlich verließ sie sich darauf, dass Ava langsam ging und nie jemanden bemerkte, der nicht für sie von Nutzen war.

      Heute aber ging Ava schneller als sonst und gewann einen zu großen Vorsprung. Als Tess die Entfernung wieder einholen wollte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, stieß sie ziemlich heftig mit jemandem zusammen und schaute in das ihr bekannte Gesicht eines Mannes. Schaute auf das Gesicht hinunter, genau genommen, denn der Mann war klein; er reichte ihr nicht einmal bis zum Schlüsselbein. Ärgerlich und verlegen sah Tess in ein Gesicht, dem sie keinen Namen zuordnen konnte, obwohl sie wie wild ihre Vergangenheit durchstöberte. College? Zeitung? Eine unerfreuliche Beziehung?

      Obwohl so klein, hatte der Mann doch einen riesigen Kopf, der auf einem dürren Hals saß. Sein Kopf war so groß und sein Hals so dünn, dass der Kopf zu wackeln schien wie bei diesen Spielzeughunden, die sich manche Leute hinten ins Auto setzen. Tess schenkte ihm ihr wärmstes Lächeln und ihr herzlichstes »Hallo!«, in der Hoffnung, seine Antwort werde ihr einen Hinweis auf seine Identität geben, oder zumindest ein wenig Zeit, sich auf seinen Namen zu besinnen. Aber Großkopf glotzte sie an, als habe er sie noch nie gesehen.

      So war es auch. Als er sich abwandte, wurde Tess klar, dass sie in eins der bekanntesten Gesichter Baltimores geschaut hatte, ein Gesicht, das man so oft sah, dass man sich unwillkürlich einbildete, man sei mit seinem Besitzer bekannt: Michael Abramowitz. Seine eng stehenden Augen blickten jetzt schon seit fast fünfzehn Jahren von Titelblättern und aus Fernsehbildschirmen. Seinen schlechten Ruf hatte er sich erworben, als er noch Pflichtverteidiger war, ein Schreihals, der die Leute verärgerte, weil er viel zu viel Erfolg verbuchen konnte für die angeklagten Mörder und Vergewaltiger, die er verteidigte. Abramowitz gewann gern, und obwohl er als armer Verwandter aufgewachsen war – ein entfernter Cousin eines innerstädtischen großen Vermögens, das auf Möbelschoner aus Plastik beruhte –, behauptete er immer, dass ihm das miserable Gehalt nichts ausmache.

      Doch als er vor einigen Jahren damit aufhörte, war er mit derselben Zielstrebigkeit, die ihn bei der Ausübung des Amts eines Pflichtverteidigers so gut vorangebracht hatte, auf einmal hinter Geld her. Er wurde der Freund von denen, die betrunken Auto fuhren, wurde der König der Versicherungsbetrüger und der Star einer Werbung, die wunderbar im Trend lag und in der vor einem lodernden Kaminfeuer gesagt wurde: »Zwei Fehler addiert ergeben noch nicht ein Richtiges. Sie haben vielleicht einen Fehler gemacht, aber Sie können sich jetzt den richtigen Anwalt nehmen.«

      Mit der Zeit wurden seine Werbungen immer seltsamer, was aber nur noch mehr zu seinem Ruhm beitrug. Er trat zusammen mit einem Dalmatiner vor die Kamera und kurze Zeit sogar mit einer vorgetäuschten Familie. Als aber ein Zeitungsartikel berichtete, dass er nie geheiratet oder Kinder bekommen habe, ging er dazu über, Banjo zu spielen, mit einer Reihe von Revuetänzerinnen hinter sich, die alle nach der Melodie von »Sweet Sue« sangen.

      »Ev’ry star above / Knows when push comes to shove / You’ll sue / Yes, you / Stars up in the sky / Tell you he’s your guy / Michael who?/Will sue.« Sein massiges Gesicht und sein schwerer Baltimorer Akzent machten ihn wenigstens dem Namen nach zu einer Berühmtheit. Und das Geschäft machte ihn, wenn auch nicht reich, so doch auf obszöne Weise zufrieden.

      Doch dann, als man gerade darüber zu spekulieren begann, ob Abramowitz wohl seine ständige Präsenz dazu benutzen würde, für sich eine erfolgreiche Bewerbung für ein hohes Amt auszuhandeln, warf er wieder alle öffentlichen Erwartungen über den Haufen, indem er O’Neal,


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