Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
ich rufe ihn an und erzähle ihm, dass mein Chef von mir verlangt hat, dass ich mit ihm schlafe, sonst hätte ich meinen Job nicht behalten. Ich erzähle ihm, dass das alles ganz ähnlich wie bei Anita Hill ist und dass es mich völlig fertiggemacht hat, deswegen habe ich auch mit dem Stehlen angefangen. Darryl wird mir glauben, und er wird mir verzeihen. Es ist ganz egal, was Sie ihm erzählen.«
»Sie sind doch Anwältin. Ich nehme an, wenn Sie tatsächlich sexuell belästigt worden wären, würden Sie damit ein wenig geschickter umgehen, als Sie es tun.«
»Haben Sie von diesem Fall in Philadelphia gehört? Eine Anwältin hat ihren berühmten Partner verklagt, und die Geschworenen haben zu ihren Gunsten geurteilt, sprachen ihr dann aber keinerlei Schadenersatz zu. Was nutzt das? Ein Opfer verdient Wiedergutmachung, finden Sie nicht auch?«
»Sind Sie ein Opfer?«
»In diesem Fall ist das Ansichtssache, und ich finde, ich bin eins«, sagte Ava. Sie stand auf und nahm ihre Tasche eng an sich, machte aber keinerlei Anstalten, Geld für ihr Bier auf den Tisch zu legen. »Vielleicht würde mir ein Gericht nicht zustimmen, aber Darryl wird es tun, da bin ich mir sicher. Und er ist das einzige Geschworenengericht, das ich überzeugen will.«
Tess war völlig durcheinander und unfähig zu antworten. Sie hatte angenommen, Ava würde davoneilen, um Rock ihre Version zu erzählen, und sich damit ihr eigenes Grab schaufeln, indem sie zu viel enthüllte. Sie hatte damit gerechnet, dass Ava ihre Affäre mehr zu schaffen machte als ihr Drang zu Ladendiebstählen. Aber in ihrer Version war der Sex, der aufgezwungene, der Grund für ihre Diebstähle. Und wenn Rock ihr jetzt glaubte? Und wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte?
George fiel wieder vom Barhocker, als Ava an ihm vorbeiging, und riss sie mit sich zu Boden. Das Durcheinander von Gliedmaßen amüsierte Tess nun doch ein wenig, aber Ava war in der Lage, sogar unter einem 150 Kilo schweren, manchmal inkontinenten Alkoholiker so viel Kühle zu bewahren wie Fürstin Gracia Patricia. Als sie aufstand und ihren nicht mehr ganz so weißen Body zurechtstrich, sah sie selbstsicher und unberührbar aus.
»Auf die Plätze, fertig, los«, rief sie über die Schulter. Bis Tess begriff, was sie meinte, und zur Tür des Lokals rannte, war Ava schon in ihrem silberfarbenen Miata und betätigte das Autotelefon, während sie den Parkplatz verließ und unerlaubterweise nach links abbog.
7
Tess trödelte am nächsten Morgen länger herum als nötig und hatte keine Eile, zum Ruderklub zu fahren. Als sie endlich ankam, war Rock offensichtlich schon auf dem Wasser, so wie sie gehofft hatte. Sie ruderte ihre übliche Strecke. Wenn er mich sucht, sagte sie sich, dann findet er mich auch. Wenn nicht, bleibt er einfach außer Sicht und versteckt sich auf diesem kleinen Seitenarm, der nach Süden führt. Das war eine recht schwierige Route – stellenweise sehr seicht, mit Brücken, unter denen man sich ducken, die Riemen einziehen und durchgleiten musste – aber Rock fuhr sie gerne, wenn er schmollte. Tess ruderte bis zum Fort Henry und zurück und dann noch einmal bis dorthin. Sie sah Achter und Vierer und Zweier, aber keinen anderen Einer.
Es war ein wunderbarer Morgen, ein Tag, den man einfach genießen musste. Strahlend blauer Himmel, leichter Wind, frische Luft. Altweibersommer, sagte sich Tess – ein unechter Frühherbst, der jederzeit wieder von schwülem Wetter abgelöst werden konnte. Tess fühlte sich, als könnte sie die ganze Chesapeake Bay hinunter und auf den Atlantik hinaus rudern und bis Mittag in England sein. Sie beschloss, sich auf dem Rückweg zum Dock richtig zu verausgaben. Bis obenhin voll mit Endorphinen, wartete sie dann im Gymnastikraum und tat so, als mache sie Dehnübungen, bis sie um acht Uhr schließlich einsah, dass Rock nicht mehr auftauchen würde. Er hatte sich bestimmt irgendwo versteckt, um seine Wunden zu lecken. Irgendwann würde er schon wieder hervorkommen.
Sie ließ den Besuch bei Jimmy’s ausfallen und frühstückte am Küchentisch ihrer Tante, wo sie mit Genuss das übrig gebliebene Vollkornbrot verzehrte, das Leutnant Strahlemann am Abend zuvor zubereitet hatte, und die Zeitungen las, die ihre Tante in einem ordentlichen Stapel zurückgelassen hatte. Tess las die Zeitung immer von hinten nach vorn, eine Gewohnheit aus ihrer Kindheit, die sich in ihrer Zeit als Reporterin noch verfestigt hatte. Als sie für die Zeitung arbeitete, kannte sie die Lokalnachrichten ja bereits, deshalb sparte sie sie bis zum Schluss auf, las erst die Features und den Sport, dann die Washington Post und die New York Times. Den Beacon las sie als Letztes, deshalb war es auch schon 9:30 Uhr, als sie den Artikel auf der unteren Hälfte der Titelseite las:
BEKANNTER ANWALT ERMORDET. BIOLOGE VERHAFTET.
Michael Abramowitz, ein Anwalt, dessen amateurhafte, aber unvergessliche Werbung ihn zu einer ungewöhnlichen, stadtbekannten Persönlichkeit gemacht hatte, wurde nach Angaben der Polizei gestern Abend in seinem Büro am inneren Hafen, bei der renommierten Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor & O’Neill, erwürgt aufgefunden.
Nur eine Stunde nach dem Mord, den die Polizei als ungewöhnlich brutal beschreibt, wurde ein Tatverdächtiger verhaftet. Darryl P. (33), Forscher an der Johns Hopkins Medical School, musste die Nacht im Bezirksgefängnis verbringen, ehe er heute Morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt und auf Kaution freigelassen wurde.
Wie aus dem Umfeld der Ermittlung verlautete, war Abramowitz mit einem pythonähnlichen Würgegriff gepackt und übel zusammengeschlagen worden. Auch sein Gesicht wies Verletzungen auf, vermutlich aus einem Kampf mit Darryl P., der das Opfer kurz nach 22 Uhr in seinem Büro aufgesucht hatte, wie der Eintrag des Wachmannes nachweist. Der Tote wurde von einem Nachtwächter entdeckt …
Shirley Temple. Tess spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und sie sah die kleine berühmte Filmschauspielerin vor sich, sah ihr Gesicht mit den Grübchen in einer geisterhaften Erscheinung in Blassblau auftauchen. Als sie ein Kind war – nun gut, sie war vierzehn gewesen –, hatte sie eine Müslischale ihrer Mutter mit einer Abbildung Shirley Temples darauf zerbrochen und die Schuld daran einem Nachbarskind in die Schuhe geschoben. Ihre Lüge war niemals aufgeflogen. Noch jetzt, fünfzehn Jahre später, rief ein schlechtes Gewissen bei ihr dieselbe Reaktion hervor – Shirleys Gesicht, und dann Übelkeit und Angst. Sie war nie ein guter Mensch gewesen, aber immer gut darin, nicht erwischt zu werden.
Sie nahm die Zeitung wieder zur Hand. Nach diesem dritten Absatz stand weiter nichts Neues darin, nur noch ein vorformulierter Text zu Abramowitz und seiner Laufbahn. All das war nichts Neues für Tess. Dieser Stil war ihr so vertraut wie der Kuss eines Geliebten. In gewissem Sinne war es tatsächlich der Kuss ihres Geliebten. Der Artikel zeigte die Handschrift von Jonathan Ross, der mit Unterbrechungen ihr Bettgenosse und ununterbrochen ein Star am Firmament des Beacon war. Vor Schreck über die Überschrift hatte sie die Verfasserzeile darunter übersprungen. Alle seine Erkennungszeichen waren da – die Quellen, die ungenannt bleiben wollten, die locker hingesetzte, eindrucksvolle Beschreibung des Mordes, der überzogene Stil, das eine belastende Detail. Die renommierte Anwaltskanzlei. Gab es auch andere? Dennoch empfand sie echte Bewunderung für die Sache mit dem Besucherverzeichnis des Wachmanns; sie hätte gewettet, dass das bei keinem anderen Journalisten der Stadt vorkam.
»Aber ich weiß mehr«, sagte sie laut. Was würde Jonathan nicht alles dafür geben, wenn er wüsste, was sie wusste – über die Frau in der Mitte dieses Dreiecks, die Zusammenkünfte im Hotel, Rocks Misstrauen. Sie war die Einzige, die das alles zusammensetzen konnte. Bei diesem Gedanken warf sie die Zeitung auf den Tisch und rief mit dünner, schriller Stimme nach Kitty.
»Tesser?« Kitty kam gelaufen, in einem Kleid aus weißem Batist in altenglischem Stil, ein weißes Band in den Locken und weißleinene Jack Purcells in Größe 36 an den Füßen. Das Ergebnis war: ein bisschen etwas von »irrer Type«, ein bisschen etwas vom Wimbledon der zwanziger Jahre und ein bisschen etwas von dem Baltimore der Siebziger, als jeder, der keine Jack Purcells trug, sich anhören musste, er trage »Fischköpfe«.
Tess warf ihr die Zeitung hin: »Du weißt doch, dieser Job als Detektivin? Ein voller Erfolg. Ich habe Rocks Verlobte mit ihrem Chef zusammen erwischt. Jetzt ist der Chef tot und Rock im Gefängnis.«
Kitty überflog den Artikel.
»Hast du Rock erzählt, was du herausgefunden hast?«