Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
sie eine plötzliche Inspiration. Sie wusste, was Ava dazu bringen würde, ans Telefon zu gehen, falls sie denn zu Hause war und mithörte.
»Miss Hill?«, fragte sie mit der hellen, fast zu klaren Stimme eines Collegemädchens, mit einer Stimme, die am Ende eines jeden Satzes sogar noch höher wird.
»Hier spricht Denise von Nordstrom? Ich habe Sie bedient, als Sie zum letzten Mal bei uns waren? Also, ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir einen ganz besonderen Ausverkauf von Donna-Karan-Artikeln machen, einen Ausverkauf, den wir nur unseren ganz besonderen Kundinnen zwei Tage vorher ankündigen, und ich wollte Sie jetzt nur über die Einzelheiten informieren? Wir geben auf einige Herbstkostüme bis zu 75 Prozent Rabatt?«
Ava nahm ab. »Ja, ich bin da. Haben Sie noch ein paar in Größe vier?«
Völlig überwältigt von dem Erfolg ihres Plans, bemerkte Tess, dass sie sich den nächsten Schritt gar nicht überlegt hatte. Sie kehrte zur Wahrheit zurück.
»Eigentlich bin ich gar keine Verkäuferin bei Nordstrom. Ich bin Privatdetektivin – jedenfalls so etwas Ähnliches, und ich habe Sie beschattet. Ich glaube, es wäre in Ihrem Interesse, wenn Sie sich mit mir treffen würden.«
Ava legte auf. Tess rief wieder an und hatte wieder den Automaten am Apparat, aber sie wusste, dass Ava daneben stand und horchte.
»Ich habe da so ein paar Informationen, Miss Hill«, sagte sie und konnte nur hoffen, dass ihre Stimme kühl und erfahren klang. »Informationen über Ihre … Betätigungen in der Mittagspause. Informationen, die ich meinem Klienten weitergeben werde, wenn Sie sich nicht mit mir treffen.«
Sie spürte, dass Ava dort drüben, nur ein paar Straßen entfernt, wartete und überlegte. Nach einer Woche Beschattung fühlte sich Tess ihrer Beute seltsam nahe. Sie mochte sie zwar trotzdem nicht, aber sie spürte etwas Trauriges und Kaputtes an ihr, wodurch sie schwerer zu hassen war. Sie wollte Avas Version der ganzen Geschichte hören, auch wenn sie bezweifelte, dass sie sie würde glauben können. Aber davon sagte sie ihr nichts, sie sagte überhaupt nichts mehr, während sie darauf wartete, dass die Verbindung mit einem Piepen unterbrochen würde.
Ava nahm ab, unmittelbar bevor das Band des Anrufbeantworters zu Ende war. »Am Sonntag«, sagte sie. »Um acht Uhr abends. Früher kann ich nicht.«
»Gut. Dann treffen wir uns im Point.«
»Im Point?«
»Das ist eine Bar, auch bekannt unter dem Namen Spikes Taverne, draußen an der Franklintown Road, ungefähr dort, wo die Interstate 70 endet.«
»Ich werde es bestimmt finden. Ich bin gespannt darauf, Sie zu sehen. Ich habe noch nie einen weiblichen Schnüffler kennengelernt.« Und sie knallte den Hörer wieder auf.
Soll sie ruhig diese Runde für sich verbuchen, beschloss Tess. Die nächste gewinne ich. Sie setzte sich an ihren Computer und schrieb zwei Theaterstücke, beide mit nur zwei Darstellern. Tess und Rock. Tess und Ava. Der einzige Trick dabei würde sein, dass man die Darsteller dazu brachte, einem Text zu folgen, von dessen Existenz sie noch gar nichts wussten.
Am nächsten Morgen, einem bewölkten Samstag, nahm sie Rock bei der Hand, als sie zusammen das Jimmy’s verließen.
»Komm, gehen wir ein bisschen spazieren«, sagte sie. Sie hatten beim Frühstück nicht über Ava gesprochen. Sie hatten jetzt zehn Tage lang nicht über Ava gesprochen, was hieß, dass sie praktisch aufgehört hatten zu reden. Es war einfach das einzige Thema auf der Welt.
»Weißt du etwas?«, fragte er.
»Ja, aber es ist nicht gerade einfach, es dir zu sagen.«
Er schluckte schwer und wurde unter seiner Sonnenbräune ganz blass. Tess führte ihn den Kai hinunter bis zu einer kleinen Bank, von der aus man den ganzen Hafen überblicken konnte.
»Ich habe Ava jetzt fast eine Woche lang praktisch ununterbrochen beobachtet. Ich glaube, ich weiß, was mit ihr los ist.«
Rock ließ keinen Blick von ihr, brachte aber kein Wort heraus. Er erinnerte Tess an einen alten Hund, der darauf vertraut, dass ihn sein geliebtes Herrchen nicht einschläfern lassen wird – bis Herrchen einfach keine andere Wahl mehr hat.
»Sie klaut in Läden. Kleinigkeiten, Sachen, die sie nicht einmal brauchen kann. Ich habe gesehen, wie sie Unterwäsche und Hemdchen eingesteckt hat, und zwar Sachen, die nicht mal ihre Größe hatten.«
Wie erwartet war das für Rock eine Erleichterung. Er seufzte, und die Luft entströmte seiner gewaltigen Lunge, als habe er sie tagelang angehalten. Diese Sache war zwar schlimm, aber doch bei Weitem nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Er konnte damit umgehen. Er konnte ihr helfen. Er richtete sich auf, um etwas zu unternehmen.
»Ich bin sicher, dass sie droben im Phipps jemanden haben, der sich mit Kleptomanie auskennt«, sagte er und bezog sich damit auf die psychiatrische Abteilung an der Johns Hopkins. Tess wandte den Kopf ab, damit er nicht sah, dass sie lächelte. Er war so vorhersehbar. Natürlich war er sofort zu dem Schluss gekommen, dass Avas Diebstähle eine Krankheit und somit heilbar waren. Auf dieser Reaktion fußte ihr ganzer Plan.
»Ich habe mich schon erkundigt. Dr. Hauer ist der führende Experte für diese Art von Krankheit.« Diese Lüge bedrückte sie nun doch ein wenig, wie sie sie hier so glatt einem vertrauensvollen Freund servierte, aber zumindest der Name stimmte, sie hatte ihn aus einem ärztlichen Ratgeber, den die Johns Hopkins jedes Jahr an die Presse verteilte.
»Ich habe schon von ihm gehört. Er hat einen ausgezeichneten Ruf.«
»Ja, das stimmt. Aber seinen Rat zu befolgen, könnte dir trotzdem schwerfallen. Er sagt, es sei ganz wichtig, sie damit momentan nicht zu konfrontieren. Ich habe ihm geschildert, was ich beobachtet habe, und er sagte, seiner Meinung nach sei sie kurz vor der Krise. Wenn du jetzt ein wenig Geduld hast, wird sie sich dir bald anvertrauen.«
»Aber wenn sie geschnappt wird? Das könnte ihre Karriere ruinieren. Sie würde niemals als Rechtsanwältin zugelassen.«
Tess hatte auch diese Frage vorhergesehen. »Ich glaube nicht, dass das passiert. Dass sie geschnappt wird, meine ich. Ich habe sie doch nur deswegen ertappt, weil ich sie schon beobachtet habe, Rock. Die Verkäuferinnen beobachten sie ja nicht. Sie ist gut gekleidet, sie sieht wie eine nette, berufstätige junge Frau aus. Die sind viel zu sehr mit den Kids beschäftigt, die Schule schwänzen, als dass sie jemanden wie Ava beobachten würden. Aber falls sie tatsächlich eingesperrt wird, sagt Dr. Hauer, dann könne er erreichen, dass die Anzeige fallen gelassen wird. Das macht er ständig.«
Eine lächerliche Behauptung. Kein Psychiater, wie hoch angesehen er auch sein mochte, konnte bei der Polizei erreichen, dass eine Anzeige fallen gelassen würde. Aber Tess rechnete mit Rocks Mangel an Erfahrung mit Polizeibeamten und mit Freilassungen auf Kaution.
Trotzdem war er nervös. Sie wusste, dass es Rock schwerfallen würde, nichts zu tun. Dies war der riskanteste Punkt ihres Plans – Rock davon abzuhalten, dass er Ava vor morgen Abend auf diese Sache ansprach.
Sie ergriff seine Linke mit beiden Händen. Die Handfläche war dick mit Hornhaut gepolstert. Die Hand eines Ruderers. Es war, als hätte man einen riesigen Topfreiniger in der Hand.
»Vertrau mir«, sagte sie, in dem Bewusstsein, dass sie sein Vertrauen gar nicht mehr verdiente. »Gib der Sache eine Woche Zeit. Wenn sie bis dahin nicht zu dir gekommen ist und dir alles erzählt hat, dann gehen wir über zu Plan B.«
»Plan B?«
»Eine Intervention, wie sie auch bei Drogenabhängigen üblich ist. Aber erst in einer Woche. Versprochen?«
»Na ja, wenn Dr. Hauer das für das Richtige hält … ich rede mit ihr nicht darüber, jedenfalls eine Woche lang. Du hast mein Wort.«
Und sein Wort, das wusste Tess, war wirklich etwas wert. Es war genauso verlässlich wie der Scheck, den er ihr in die Hand drückte, über 1080 Dollar. Ihr erster Einakter war ohne Zwischenfall über die Bühne gegangen. Jetzt musste sie nur noch den zweiten in Szene setzen und aufführen. Mit Fortsetzungsgeschichten war das immer