Lacroix und die stille Nacht von Montmartre. Alex Lépic
Commissaire reihte sich ein, grüßte hier und nickte dort. Hintereinander gingen sie über den schmalen Weg, der von der Stadtreinigung freigeräumt worden war, während sich rechts und links die Schneeberge türmten.
Am Kiosk vorn an der Ecke zur Rue Saint-Dominique blieb er stehen, weil er glaubte, nicht richtig zu sehen. Doch. Das war er, auf der Titelseite von Le Parisien. Lacroix grüßte den Verkäufer, der sofort grinste: »Oh, Commissaire, wechseln Sie das Revier? Was machen Sie denn in Montmartre? Gut für mich, die Ausgabe geht weg wie warme Baguettes.«
Lacroix lächelte, auch wenn ihm ganz und gar nicht komisch zumute war. Er nahm eine Zeitung, legte ein paar Münzen auf den Teller und las im Gehen die Schlagzeile.
Böses Weihnachtswunder auf Montmartre – doch nun kommt Maigret
von Romy Schneider
Lacroix schnaubte. Wie konnte das sein? Schon wieder diese impertinente Journalistin. Hatten sie auf der Lauer gelegen und auf ihn gewartet? Er erinnerte sich an den Fotografen, der die Bilder gemacht hatte. Wütend las er weiter.
Eigentlich sind die Adventstage eine friedliche und besinnliche Zeit. Doch für die Bürger des Achtzehnten gab es am Donnerstagmorgen eine böse Überraschung: Über Nacht wurde die komplette Weihnachtsbeleuchtung auf der Place du Tertre abgebaut. Gestern berichteten wir darüber nur als kurze Meldung – doch die Aufregung bei den Bewohnern von Montmartre hat uns erreicht, in Form von Mails, Anrufen, Leserbriefen. Auch der Bürgermeister des Arrondissements, Charles Dufour, hat uns persönlich empfangen und appelliert an die Diebe: »Sie machen uns Weihnachten nicht kaputt. Wir wollen unsere Weihnachtsbeleuchtung zurück!« Und er bittet um Mithilfe: »Wenn Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, etwas gehört oder gesehen haben, dann melden Sie sich bitte bei der Polizei oder im Rathaus.«
Nun naht Rettung – und wir durften gestern Zeuge davon werden: Commissaire Lacroix, unseren Lesern als der neue Maigret bekannt, scheint sich des bösen Weihnachtswunders anzunehmen. Jedenfalls erwischten wir ihn gestern Nachmittag am Ort des Verbrechens, als er gerade mit der zuständigen Kollegin die Maler auf der Place du Tertre befragte. Nicht zuletzt nach der spektakulären Festnahme im Fall des toten Bäckers von Saint-Germain (wir berichteten) ist klar: Die Diebe der Weihnachtslichter werden sich gut verstecken müssen. Wir bleiben an dem Fall dran.
Lacroix schlug sich die Hand vor den Kopf. Er konnte es nicht fassen. So ein Unfug. Beinahe wäre er auf der Eisfläche ausgerutscht, die sich auf einem Gullydeckel gebildet hatte, doch er konnte sich gerade noch abfangen. Gedankenversunken lief er gen Osten und merkte gar nicht, dass er schon vor dem Chai de l’Abbaye stand. Das war gut. Einen Kaffee brauchte er jetzt dringend.
»Verdammt«, murmelte er, weil er schon wieder vergessen hatte, seine Pfeife anzuzünden. Was war denn mit ihm los? Dieser Fall, der keiner war, brachte ihn völlig aus dem Konzept.
Er öffnete die Tür, und sofort schlug ihm dieser Geruch entgegen, bei dem er sich für gewöhnlich gleich heimisch fühlte. Der Duft nach warmen Croissants, nach frischem Kaffee und nach dem Putzmittel, mit dem Yvonne morgens den Laden wischte. Wieder war kein anderes Mitglied seiner Theken-Troika da. Doch gerade, als er sich an der Bar niederlassen wollte, mit einem suchenden Blick nach der Wirtin, ertönte es hinter ihm: »Commissaire, endlich, ich warte schon auf Sie!«
Lacroix schloss die Augen. Das war doch unmöglich. Er drehte sich nicht um, doch eine Sekunde später saß sie schon auf dem Barhocker neben ihm.
»Guten Morgen, Commissaire.«
»Mademoiselle Schneider.«
»Oh, schlechte Laune?«
»Ist denn Weihnachten derart Saure-Gurken-Zeit, dass Sie die ganze Titelseite für so einen Unsinn verschwenden?«
Romy Schneider, die erst seit einigen Monaten als Polizeireporterin beim Parisien arbeitete, Lacroix aber von Anfang an gehörig auf die Nerven gegangen war, sah ihn überrascht an.
»Ach, Sie haben es noch gar nicht gehört?«
Er wandte ihr den Kopf zu, etwas in ihrem Ton alarmierte ihn.
»Was soll ich gehört haben?«
»Na, Unsinn wäre es ja wohl nur, wenn es bei der Sache mit den Lichterketten geblieben wäre. Doch heute Nacht ist wieder etwas passiert.«
»Mademoiselle Schneider, ich habe ohnehin schon wahnsinnig schlechte Laune«, sagte Lacroix unwirsch und sah sich suchend nach Yvonne um, die immer noch im hinteren Teil des Bistros die Frühstücksgäste bewirtete. Er brauchte dringend einen Kaffee. »Sagen Sie mir einfach, was passiert ist.«
Die junge Frau wollte gerade ansetzen, als endlich Yvonne Abeille neben ihn trat und Lacroix begrüßte.
»Mon Commissaire«, sagte sie und drückte ihm die bises auf die Wange. »Da bist du ja endlich. Die junge Frau tippelt seit einer Stunde von einem Fuß auf den anderen, weil sie auf dich wartet. Kaffee?«
»Bitte.«
Yvonne ging an die Kaffeemaschine, doch Lacroix hätte wetten können, dass sie die Ohren spitzte, weil sie unbedingt wissen wollte, was vor sich ging.
»Es ist nicht zu fassen. Ich wollte ja eigentlich gar nichts über den Lichterkettendiebstahl schreiben, Commissaire, weil ich dachte, das sei keine große Sache. Aber Dufour, der Bürgermeister, hat beim Chefredakteur angerufen und getobt, dass man darüber doch berichten müsse. Also habe ich den Artikel geschrieben – es kann ja nicht schaden, sich mit dem Mann gut zu stellen. Er ist die große Hoffnung der Stadt. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, doch heute Morgen klingelte ganz früh mein Telefon, und unser Lokalreporter aus dem Achtzehnten war dran. Sie werden es nicht glauben: Der Weihnachtsbaum auf der Place Saint-Pierre wurde gefällt, Sie wissen schon, die große Nordmanntanne unterhalb von Sacré-Cœur.«
»Er wurde gefällt? Was soll das heißen?«
»Abgesägt, jemand hat ihn abgesägt.«
»Heute Nacht?«
»Ja! Unsere Stadt ist derart im Weihnachtstaumel, ich glaube, so langsam wird das eine große Geschichte. Was denken Sie, Maigret?«
Yvonne stellte den Kaffee vor ihn und ignorierte die Journalistin komplett.
»Sie sollen mich nicht so nennen, Mademoiselle Schneider. Haben Sie verstanden?«
Die junge Frau sah ihn erwartungsvoll an. »Und? Fahren wir hoch?«
Lacroix glaubte sich verhört zu haben. »Wir? Wir fahren nirgendwohin. Sie können hochfahren. Aber ich bleibe hier und kümmere mich um mein Revier.«
»Lacroix, bitte! Ich sehe doch das Glänzen in Ihren Augen. Wenn der Fall Sie nicht interessieren würde, wären Sie gar nicht erst hingefahren. Und jetzt, wo noch etwas passiert ist, werden Sie sich die Sache erst recht genauer ansehen. Also: Mein Auto steht vor der Tür. Kommen Sie, ich nehme Sie mit.«
Der Commissaire rang mit sich. Auf der einen Seite wollte er sich nicht von einer Journalistin durch die Stadt chauffieren lassen, die eine unglaubliche Nervensäge war und sich offenbar vorgenommen hatte, ihn in ihren Artikeln zu einer Legende zu machen, was ihm das Leben erschwerte, ihr aber eine höhere Auflage sicherte. Auf der anderen Seite hatte sie einen wirklich sicheren Instinkt – und sie war ein echter Terrier, wenn es darum ging, sich in einer Geschichte festzubeißen. Im Fall des toten Bäckers von Saint-Germain hatte sie sogar entscheidende Tipps gegeben, dank derer er den Täter hatte überführen können. Er überwand sich und nickte.
»Gut, warten Sie bitte draußen. Ich komme gleich, und dann fahren wir.«
Sie schlug kurz auf die Theke, eine Übersprungshandlung. Er sah den Triumph in ihren Augen, offensichtlich hatte sie nicht mit einer Zusage gerechnet. Sie ließ ihn allein. Als er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, lehnte Lacroix sich auf dem Barhocker zurück und griff nach der Kaffeetasse, der café serré war schwarz und stark, wie er ihn mochte, er belebte ihn augenblicklich.
»Na, das kann ja was werden …«, murmelte er.
»Was sagst du?«