Ein Fall für die Akten. Gerhard Koll
Dann stolperte er zurück ins Treppenhaus, um dort tief durchzuatmen. In der kalten Luft fand er dann endlich seine Sprache wieder.
»Die Polizei muss her, schnell«, rief er hysterisch, ohne irgendjemanden im Blick zu haben, dem dieser Ruf gelten konnte. Die Tür der Russen war verschlossen. Entweder hatten sie nichts mitbekommen oder ignorierten jegliche Geräusche von außen, um nicht in unangenehme Dinge hineingezogen zu werden. Vielleicht waren sie auch nicht zu Hause.
Opa Heinrich stolperte so schnell es ihm möglich war die Treppe nach oben. »Nichts anfassen«, raunzte er schon halb auf dem Zwischenpodest der Treppen. So langsam begann er, Gefallen an der Situation zu finden. Der erste Schreck war überwunden und nun war es an ihm, die Sache in den Griff zu bekommen. Er behielt die Nerven, war ganz Herr der Lage. Wer sonst hätte das Kommando übernehmen sollen? Doch nicht etwa seine Klara? Die bibberte wie ein Zitteraal und war nicht ansprechbar. Da zeigte sich doch mal wieder, was den Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau ausmachte! Noch bevor er die zweite Treppe in Angriff genommen hatte, sah er sich vor versammelter Trinkhallenmannschaft erzählen, wie er die Leiche entdeckt und geistesgegenwärtig alle erforderlichen Schritte in die Wege geleitet hatte. Tatort abgesperrt, Spuren und Beweismaterial gesichert. Nicht zuletzt dank seines schnellen und energischen Eingreifens würde es der Polizei bald gelingen, den oder die Täter zu ergreifen! Vielleicht würde sogar ein Bild von ihm in der Zeitung erscheinen. Er im Vordergrund des Tatortes. Da müsste er gleich mehrere Zeitungen kaufen, um sie in der Trinkhalle zu verteilen. Und das Fernsehen. Wahrscheinlich würde sogar ein Bericht im Fernsehen kommen! Er, wieder am Ort des grausamen Geschehens, von einer hübschen Journalistin um eine Stellungnahme gebeten. Da würde er dann auspacken! Sagen, was Sache ist! Dass er den Mord nämlich schon lange vorher hatte kommen sehen. Ein einsamer Rufer in der Nacht wäre er gewesen, aber all seine Warnungen waren ungehört geblieben. Heinrich Hoppe, Frührentner aus Dortmund, allein im Kampf gegen die internationale Drogenmafia. Das würde Wellen schlagen.
Er hastete zum Telefon und wählte den Notruf 110. Sein Pulsschlag war erhöht, die Aufregung sowie das schnelle Treppensteigen machten sich bemerkbar. Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Jetzt galt es, dem Verbrechen die Stirn zu bieten.
»Ja, Hoppe hier. Mozartstraße. Ich will eine Tote melden. Die hat man umgebracht, hier im Haus, unter uns. Dat sieht aus! Ganz schlimm, überall Blut und Gehirn …!«
Seine Stimme überschlug sich, weshalb er verdutzt war, als der Beamte am anderen Ende der Leitung ihn mit ruhigem Ton unterbrach und nach Dingen fragte, von denen Heinrich glaubte, sie schon längst erzählt zu haben. Auch fand er die Aufforderung, sich zunächst einmal zu beruhigen, überheblich. Stellten die etwa seine Professionalität infrage?
Also, sie würden einen Streifenwagen schicken! Das war typisch. Wahrscheinlich mit so einer kleinen blonden Beamtin, die einen geflochtenen Zopf trug und einen dicken Arsch in der Uniformhose hatte – noch keine dreißig, aber hier dann den Ton angeben. Nee, da hätte er sich lieber gleich mit der Kripo verbinden lassen sollen, ärgerte sich Opa Heinrich.
Auf dem Weg zurück in die Wohnung der Toten fand er seine Klara vor der Eingangstür auf der Treppe sitzend. Sie hatte die Flasche Frühstückskorn aus der Tüte geholt und schon einige kräftige Züge daraus genommen. Unablässig schüttelte sie den Kopf.
»Nein, so was. Ich bin völlig fertig. Wenn ich nur daran denke …«
Wieder setzte sie die Flasche an und reichte sie anschließend an Opa Heinrich weiter, der ein paar Stufen über ihr stehen geblieben war.
»Jetzt nicht!«, raunte er sie an. »Eina muss doch ’en klaren Kopp behalten.« Er griff aber trotzdem nach der Flasche.
»Na ja, einen kleinen Schluck. Danach muss ich nach unten in meine Wohnung, mich umziehn. Watt glaubsse, watt hier gleich los iss.«
»Nee, dat hab ich ihr nicht gewünscht. Dat arme Kind«, sagte Klara abwesend. Sie fragte sich, ob sie sich in irgendeiner Art und Weise am Tod von Sonja Hedewig schuldig gemacht hatte. Immerhin hatte sie ihr zu mancher Zeit alles nur denkbar Schlechte gewünscht, sogar bis hin zum Tod. Und nun das.
Opa Heinrich machte eine abfällige Handbewegung, ging an Klara vorbei die Treppe hinunter. Die Zeit drängte, dabei wusste er immer noch nicht, was er bei solch einem Ereignis tragen sollte. Er überlegte, ob sein Anzug überhaupt noch tragbar sei. Womöglich hatten die Motten unzählige Löcher hineingefressen, so dass er nur noch aus Fetzen bestand und einer Vogelscheuche gleich im Schrank hing. Wann hatte er ihn überhaupt zuletzt getragen?
Kaum hatte er seine Wohnung im Parterre erreicht und war im Begriff, die Tür aufzuschließen, da bemerkte er, dass zwei Polizeibeamte vor dem Hauseingang standen und offensichtlich nach einem Namen auf dem Klingelbrett suchten. Durch die gesprungene Milchglasscheibe in der Mitte der Haustür konnte man ihre Lederjacken mit den Funkgeräten erkennen, die ein kosmisches Rauschen hören ließen. Die Frage nach der Kleiderordnung hatte sich somit fürs Erste erledigt. Opa Heinrich öffnete die Haustür in Schlafanzughose und Unterhemd.
Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Ein junger Beamter und eine noch jüngere Beamtin standen vor der Tür und fragten, ob er sie gerufen hätte. Beide hätten seine Kinder sein können. Zwangsläufig musste er sich fragen, ob diese Küken die Dimension dieses grauenvollen Verbrechens überhaupt erfassen konnten.
»Da muss die Kripo her. Und die Spurensicherung«, belehrte er die Beamten in einem Tonfall, den er für gelassen hielt und mit dem er hoffte, Eindruck zu schinden.
Die überhörten den anmaßenden Ton kommentarlos und ließen sich von ihm die Wohnung zeigen. Klara saß immer noch kopfschüttelnd auf den Stufen. Der Korn in der Flasche hatte bereits beträchtlich abgenommen. Die Beamten warfen ihr einen Blick zu, der offensichtlich besagen sollte, dass sie die Treppe nicht verlassen solle, damit man ihr hinterher Fragen stellen konnte. Zunächst wollten die Beamten die Leiche sehen, um die Lage einzuschätzen.
Opa Heinrich machte Anstalten, in die Wohnung zu stürmen, als er von der Beamtin zurückgehalten wurde. Er solle ebenfalls hier warten, ihr Kollege und sie wollten sich alleine einen Eindruck vom Geschehenen verschaffen, sagte sie. Opa Heinrich warf ihr einen beleidigten Blick zu. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Die Puppi spielte hier den Chef. Noch keine dreißig und dann das. Ihn so abzukanzeln, das auch noch vor den Augen seiner Klara. Also, der würde er keine Fragen beantworten, da würde sie bei ihm auf Granit beißen! So etwas Überhebliches!
Er wollte gerade noch einen Blick in den Flur riskieren, um etwas von der Polizeiarbeit vor Ort mitzubekommen, was für die Berichterstattung in der Trinkhalle von großer Bedeutung gewesen wäre, als die zwei auch schon aus der Wohnung herauskamen. Puppi war leichenblass und ihr Kollege eifrig dabei, per Funkgerät die Zentrale zu unterrichten. Dabei forderte er Kripo, Arzt und Spurensicherung an. Die komplette Mannschaft.
Dass der kleinen Polizistin übel war, tat Opa Heinrich gut. Es versöhnte ihn ein wenig für die barsche Anweisung von vorhin. Es war geradezu eine innere Genugtuung, und das Gespräch mit der Leitstelle quittierte er nur mit einem hochnäsigen: »Habe ich doch gleich gesagt!« Endlich würden die kompetenten Leute kommen und mit denen würde er dann auch reden. Von Fachmann zu Fachmann, sozusagen.
Die Polizistin hatte sich wieder gefangen. Sie begann, die Personalien aufzunehmen und sich über die Gegebenheiten im Hause zu erkundigen. Alles schrieb sie fein säuberlich mit ihrer Mädchenhandschrift auf einen DIN-A6-Spiralblock mit kariertem Papier. Anschließend wies sie an, dass Klara und Opa Heinrich bis zum Eintreffen der Kripo ruhig in ihre Wohnungen gehen könnten.
Opa Heinrich beeilte sich, um diesmal vor dem Eintreffen der Kripobeamten etwas Ordentliches am Leibe zu tragen. Er hastete erneut die Treppe herunter, während sich Klara schwerfällig erhob und gleich wieder auf die Treppe zurückfiel. »Dat tut mich so leid. Dat arme Kind«, lallte sie die Polizistin an, die sie nun stützte und offensichtlich auch bereit war, Klara in ihre Wohnung zu begleiten. Zwei Treppen ausgetretenen Holzes.
»Man soll ja Toten nichts Böses nachsagen, abba die hat auch selba schuld, vastehn se. Mit wem die allet verkehrt hat. Da war bestimmt au en Perversa drunta und der hat se dann …« Klara schwieg, verdrehte die Augen und führte mit ihrem