Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Radek Knapp

Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien - Radek Knapp


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Amerika jeder Dritte immer noch glaubt, Mozart hätte unlängst eine olympische Medaille im Riesenslalom geholt.«

      »Ich fürchte, ich habe kein Interesse am österreichischen Schnee oder an Mozart«, erwiderte ich höflich, »außerdem ist Österreich für das, was ich vorhabe, zu klein.«

      »Wieder falsch«, widersprach mein Großvater und machte eine Handbewegung, als würde er etwas zusammenpressen, »würde man die österreichischen Berge platt drücken, wäre Österreich so groß wie Deutschland und Frankreich zusammengenommen. Außerdem misst man ein Land nicht in Metern. Die Österreicher schauen auch nicht dauernd nach links oder rechts, sondern graben in die Tiefe unter ihren Füßen. Sie haben die besten Katakomben, originelle Keller und überhaupt ist dort unterirdisch viel los.«

      »Das hört sich nett an. Aber mich interessiert trotzdem, was so alles auf der Oberfläche los ist.«

      »Dann zeige ich dir mal was.«

      Mein Großvater suchte etwas auf der Europakarte und deutete auf etwas, das wie ein kleiner verschütteter Kaffeefleck aussah.

      »Auf diesen sechs Quadratzentimetern leben zurzeit acht Millionen Leute, die ziemlich guter Laune sind. Hier gibt es genug Platz für Hunderte Städte, große Museen und ein Ding namens Riesenrad. Und obendrein noch für Tausende Kaffeehäuser und eine Menge Skilehrer.«

      Mein Großvater hob wieder den Finger.

      »Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien ganz zu schweigen.«

      »Und was soll das sein? Diese Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien?«, machte ich mich über seine Begeisterung lustig. »Österreichische Kochrezepte?«

      »Das könnte ich dir verraten. Aber muss ein Forscher so etwas nicht selber herausfinden?«

      »Kommt nicht infrage«, machte ich reinen Tisch, »ich fahre nicht in ein Land, das die Form eines verschütteten Kaffeeflecks hat.

      Mein Großvater ging wieder zur Tür: »Mach, was du willst. Es ist ja schließlich nicht wichtig, wohin du fährst, sondern wie viele Überraschungen man dir dort bereitet. Wobei Österreich dich diesbezüglich bestimmt ganz schön auf Trab halten würde.«

      Er drehte sich ein letztes Mal um: »Aber eins rate ich dir. Wo immer du auch landest, kauf dir ein Heft und notier alles, was dir dort widerfährt. Auf Reisen funktioniert das Gedächtnis schlechter und die Uhren laufen viel schneller als zu Hause. Mit einem Kugelschreiber und einem Notizbuch kannst du beides in Schach halten.«

      Er verließ das Zimmer und ich betrachtete noch einmal den kleinen, kläglichen Kaffeefleck auf der Europakarte. Ich schüttelte den Kopf über die Naivität meines Großvaters. Wie konnte er nur glauben, dass er mich dazu bringen würde, ein Land zu erforschen, das so klein war, dass sich nicht einmal das Wort »Österreich« darauf ausging? Und was bedeutete dieser Unsinn von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien?

      Nein, nach Österreich würden mich keine zehn Pferde kriegen. Das war so sicher wie das Amen im polnischen Gebet. Ich machte das Licht aus und ging zu Bett. Erstaunlicherweise schlief ich zum ersten Mal seit Tagen gleich ein.

      Zwei Wochen später stand ich auf einem Bahnhof in Wien. Und so hat alles begonnen.

      Deutsch für Sture

      Bevor mein Großvater mir Österreich aufgeschwatzt hat, wusste ich über dieses Land nur drei Dinge. Erstens, dass dort einmal ein gewisser Kaiser Franz Joseph so lange regiert hat, bis ihm derart exorbitante Bartkoteletten gewachsen waren, dass man sein Gesicht nicht mehr sah. Zweitens sollte dort ein Mann namens Niki Lauda schwere Millionen verdienen, weil er einmal pro Woche möglichst schnell im Kreis fuhr. Und drittens, dass man dort Deutsch sprach. Letzteres war an sich keine schlechte Nachricht für jemanden, der mit polnischen Kriegsfilmen aufgewachsen war, wo man immer wieder einen Satz auf Deutsch einstreute. Leider waren es hauptsächlich Sätze militärischer Natur wie »Heute erobern wir Stalingrad« oder »Nur über die Leiche unseres Generals«.

      Also tauchte ich vor der Abfahrt sicherheitshalber noch in den großen Ozean deutscher Zivilausdrücke ein, um vor Ort nicht wie ein Militär oder ein Dummkopf dazustehen. Ich besorgte mir dazu das in Polen seinerzeit populäre DDR-Lehrbuch Deutsch für Sture.

      Interessanterweise hatte mein Exemplar einen Druckfehler, wodurch man die Seite 1 mit der Seite 48 vertauscht hatte. So lernte ich nicht als Erstes »Ich heiße Franz und komme aus Rostock« oder »Ich bin Heike und esse gerne Erdbeereis«, sondern den rätselhaften Ausdruck »Ein Wasserrohrbruch kann sogar zwei Menschenleben kosten«, gefolgt von »Einem deutschen Klempner ist nichts zu schwer«.

      Nicht nötig zu sagen, dass mir diese beiden Sätze später viel nützlicher waren als die Information über Heikes Eisvorlieben. Aber egal, welche Seite ich in Deutsch für Sture auch aufschlug, eines blieb immer gleich: Deutsch verschwendete überhaupt keine Zeit. Was immer man in dieser Sprache sagte, sie gab einem nicht nur das Gefühl, etwas gespart zu haben, sondern erinnerte einen auch daran: »Das Leben ist kurz, also fasse dich lieber kurz.« Ganz anders als das Polnische, wo bei jeder Bemerkung automatisch mitschwang: »Was ich jetzt sage, kann ich auch morgen sagen. Müssen wir eigentlich überhaupt darüber reden?«

      Diese geradezu sadistische Sparsamkeit verzauberte mich. Hörte man einem Slawen eine halbe Stunde zu, musste man das Gehörte nachher wie einen Schwamm in der Hand zusammendrücken, um die Essenz herauszupressen. Drückte man das Deutsche zusammen, war es so, als würde man einen Stein zusammenpressen. Ein deutscher Satz war ein Satz, dem man nichts mehr hinzuzufügen brauchte.

      Nachdem ich die erfrischende Sparsamkeit der deutschen Sprache verinnerlicht hatte, konnte ich es kaum erwarten, mein Wissen auszuprobieren. Sobald ich aber österreichischen Boden berührte, bereitete mir der kleine längliche Kaffeefleck schon die erste Überraschung: Nämlich, dass man hier gar nicht Deutsch sprach.

      Ich weiß noch, wie ich, kurz nachdem ich aus dem Zug gestiegen war, in eine Bahnhofskneipe ging und schon von der Schwelle den merkwürdigen Satz hörte: »Geh bodn (gehe baden)!« Es war keine Aufforderung, das nächstgelegene Schwimmbad aufzusuchen, sondern die Kneipe recht flott wieder zu verlassen. Abgesehen davon, dass es sich um eine originelle Begrüßung handelte, kam es mir vor, als hätte mir eine fremde Macht einen üblen Streich gespielt. Nicht nur mein ganzer Deutschunterricht war umsonst, das Wienerische fiel in eine seltsame Undeutlichkeit zurück, die mir verdächtig slawisch vorkam. Wenig später bestätigte sich ein weiterer Verdacht. Der Wiener hatte den Wiener Dialekt eindeutig nur deshalb erfunden, um sofort jeden Nichtwiener zu entlarven. Er ließ sich unmöglich nachmachen und zu alldem herrschte hier eine Dialektvielfalt wie im Kongobecken.

      Wie alle Verzweifelten, die vor einer unlösbaren Aufgabe stehen, schlug ich zuerst den Weg des geringsten Widerstandes ein. Im Laufe der nächsten Wochen konzentrierte ich mich nur auf Worte, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Ich freute mich wie ein Kind, als jemand eines Tages »Tschopperl« zu mir sagte. Es bedeutete zwar, dass ich geistig nicht auf dem letzten Stand war, aber dafür stammte das Tschopperl von »čapek« ab, was im Tschechischen »kleiner Storch« heißt.

      Noch glücklicher war ich, als ich den Ausdruck »auf Lepschi gehen« aufschnappte, was ungefähr so viel bedeutete wie »ausgehen«. Das Wort »lepsi« kam auch aus dem Slawischen und bedeutete »besser«, was wohl zu verstehen gab, dass das Ausgehen in Wien eine besonders angenehme Handlung sein musste.

      Wäre ich Italiener, wäre mir überhaupt eine Menge Lernarbeit erspart worden, weil man hier die meisten Vokabeln geklaut hatte. »Gspusi« bedeutete zum Beispiel auf Wienerisch eine Affäre und kam von »sposa«, dem italienischen Wort für Ehefrau. »Büsln« kam aus dem italienischen »pisolare« – ein Nickerchen machen. Und das Wort »Tschick« kam von »cicca«, was einen Zigarettenstummel umschrieb. Somit konnte sogar der unterbelichtetste Italiener den ersten Satz auf Wienerisch bauen, den er nicht nur verstand, sondern auch sicherlich guthieß: »Zuerst kleine Gspusi, dann bissi büsln und danach Tschick.«

      Die endgültige Rettung brachte mir aber die allseits beliebte Kronen Zeitung. Sie führte mich mindestens genauso


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