Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Radek Knapp

Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien - Radek Knapp


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mitgehen ließ, erfuhr man nicht nur überaus nützliche Dinge wie zum Beispiel, dass Wale zuerst zwei Mal im Kreis schwimmen, bevor sie Geschlechtsverkehr haben, oder dass man in einer Stadt namens Linz zum wiederholten Male die längste Hundeleine der Welt (44 Meter) konfisziert hatte. Es gab dort vor allem eine horizonterweiternde Rubrik namens »Heiteres Bezirksgericht«, die im reinsten Wiener Dialekt verfasst wurde. Sie präsentierte in einer skurrilen Tonart die interessantesten Gerichtsfälle Wiens. Ziemlich schnell hatte ich solche wichtigen Worte drauf wie »Amtsschimmel« oder »Trottelrichter«. Ganz zu schweigen von weiteren Aufforderungen zum Sichentfernen, von denen es in dieser gastfreundlichen Stadt erstaunlich viele gab, wie zum Beispiel »Moch a Servas« (Winke ein letztes Mal und verschwinde) oder das wieder stark in Mode kommende, weil arabisch klingende »Hau di iba di Hoisa« (Suche das Weite über den Häusern).

      Auf diese Weise machte ich nicht nur schnell Fortschritte, sondern lernte auch Vokabeln und Ausdrücke, die sogar einen Einblick in die philosophische Seite der österreichischen Seele erlaubten.

      Der Ausdruck »Schau ma mal, dann wer ma sehen« (Schauen wir mal, dann werden wir sehen) war da besonders aufschlussreich. Zuerst glaubte ich, es wäre eine buddhistische Aufforderung, einen Gegenstand so lange zu betrachten, bis man sein Innerstes erblickt. In Wirklichkeit war es ein uraltes österreichisches Rezept, Probleme aller Art zu lösen. Das »Heitere Bezirksgericht« schilderte den Fall eines Trafikanten, der mehreren Leuten Geld schuldete und vor den Richter kam.

      »Wann werden Sie Ihrem Arbeitgeber die fällige Schuld zurückzahlen?«, fragte der Richter, worauf der Trafikant antwortete: »Schau ma mal, dann wer ma sehen.«

      »Wann zahlen Sie Ihrer Frau Alimente?«, lautete die nächste Frage.

      »Schau ma mal, dann wer ma sehen«, lautete wieder die Antwort. Auf jede weitere Frage antwortete der Trafikant immer wieder nur »Schau ma mal, dann wer ma sehen«.

      Er wurde noch am selben Tag freigesprochen.

      Ein weiteres sprachliches Meisterwerk lautete: »Bevor ma randalieren, mach ma lieba a zweite Kassa auf« (statt uns zu prügeln, machen wir lieber eine zweite Kassa auf). Hier glaubte ich zuerst, dass es um eine Supermarkt-Richtlinie ging. Als Ostblockmensch wusste ich nur zu gut, dass zu langes Schlangestehen sogar aus dem zivilisiertesten Volk eine primitive und aggressive Masse machen kann. Als Wien zum Beispiel von der Corona-Plage heimgesucht wurde und jeder für sich herausfinden musste, wie viel Klopapier er täglich brauchte, wurde es eindrucksvoll bewiesen.

      Wieder erleuchtete mich das »Heitere Bezirksgericht«. In einem Billa-Supermarkt war ein Pensionist unerwartet handgreiflich geworden, indem er sich mit dem Schlachtruf »Mach ma endlich eine zweite Kassa auf!« auf einen Angestellten stürzte. Ihm drohte ein Monat Gefängnis wegen versuchter Körperverletzung. Seine Verteidigung war horizonterweiternd: »Ich habe nie vorgehabt, jemanden zu verletzen«, plädierte er, »im Gegenteil. Ich appellierte an die zwei Kassen in meinem Gehirn.«

      »Was soll das heißen?«, staunte der Richter.

      »Die erste Kassa steht für Aggression und Kampflust. Die zweite Kassa ist friedliebend. Das Problem bei mir ist; die erste Kassa hat immer offen. Die zweite Kassa nie.«

      Er wurde noch schneller freigesprochen als der Trafikant.

      An dieser Stelle fragte ich mich, warum die Kommunisten in meiner polnischen Heimat sich nicht auch so etwas Intelligentes einfallen ließen. Wenn sie »Proletarier aller Völker, vereinigt euch« mit »Proletarier aller Völker, macht eine zweite Kassa auf« ersetzt hätten, wären sie heute noch am Ruder.

      Schließlich war es so weit. An dem Tag, als mein Wiener Dialekt so weit fortgeschritten war, dass ich mich nicht nur verständlich machen, sondern auch eine alte Rechnung begleichen konnte, schritt ich zur Tat. Ausgerüstet mit meinem »Heiteres Bezirksgericht«-Sprachwissen fuhr ich in die Bahnhofskneipe, wo man mich gleich nach meiner Ankunft mit einem »Geh bodn« hinausgeworfen hatte. Ich betrat sie so selbstverständlich, als wäre ich um die Ecke zur Welt gekommen, und bestellte im besten Wiener Dialekt ein »Krügerl« (ein großes Bier).

      Der Kellner brachte es mir diesmal, ohne einmal mit der Wimper zu zucken, und stellte es vor mir ab. Dann fragte er mich höflich, ob ich noch gerne ein »Schnitzerl« dazu hätte. Auf diesen Moment hatte ich Monate gewartet: Ich lehnte mich wie ein Pascha langsam zurück und antwortete so laut, dass man es an den Nachbartischen hören konnte: »Schau ma mal, dann wer ma sehen.« Der Kellner nahm es mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis, und ich begriff, dass aus meinem »Deutsch für Sture« endlich ein »Wienerisch für Einheimische« wurde. Und während ich mein Bier trank, begriff ich, dass man ein Land auf viele Arten erforschen konnte. Auch durch einen Satz, von dem man noch vor Kurzem nicht einmal wusste, dass er existiert. Von jetzt an konnte ich mich weiteren Entdeckungen widmen, die ich mir vorgenommen hatte zu machen. Und die nächste lautete: den Verursacher des Wiener Dialekts dingfest zu machen.

      Die aussterbende Spezies

      Wenn mir etwas in Wien von Anfang an keine Ruhe ließ, dann ein sonderbares Paradoxon. Man hörte zwar überall den Wiener Dialekt, aber sein Erfinder, der echte Wiener, war nirgendwo zu sehen. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als ich erfuhr, dass der Kellner, der mich aus der Bahnhofskneipe auf die Straße gesetzt hatte, nur eine billige Kopie war. Er kam aus einem ominösen Ort namens St. Pölten, der mit Wien so viel gemeinsam hatte wie ein Ramschladen mit dem Louvre. Und das war nur die Spitze des Eisberges. Sobald ich meine Nachforschungen ausdehnte, stellte sich heraus, dass Wien voller Kopien war, die die Stadt regelrecht überflutet hatten. Besser noch: Je weiter einer von Wien weg auf die Welt kam, umso leidenschaftlicher spielte er das Original. Die Fiaker kamen scharenweise aus dem Burgenland. Die als Mozart verkleideten Kartenverkäufer redeten im Tiroler Dialekt. Ganz zu schweigen von den vielen Fremdlingen, die von überallher kamen und sich überhaupt keine Mühe mehr machten, als Wiener durchzugehen.

      Eines Tages wurde ich Zeuge einer pikanten Szene in einem eleganten Innenstadtcafé, die mich nicht mehr in Ruhe ließ. Der Kellner kam aus Amstetten (ich hatte es später nachgeprüft) und bediente gerade ein deutsches Ehepaar aus Hannover.

      »Wir hätten gerne einen Kaffee«, sagte der Mann aus Hannover in seiner Naivität, mit seinem Hochdeutsch durchzukommen, und fügte noch unvorsichtigerweise hinzu: »Wenn es Ihnen möglich wäre, ihn uns bald zu bringen, wäre es wunderbar. Unser Bus wartet schon.« Die Ehefrau begleitete sicherheitshalber jedes Wort ihres Ehemannes mit einem freundlichen Lächeln.

      Die erstklassig verkleidete Kopie aus Amstetten wartete, bis der Gast ausgeredet hatte, und antwortete derart gekonnt, dass man sie nicht mehr vom Original unterscheiden konnte: »Sich i aus, als hätt i irgendwo an Knopf? Und der Kaffee hat a kan Knopf«, rief er durch den ganzen Raum (Sehe ich aus, als hätte ich irgendwo einen Einschaltknopf? Und der Kaffee besitzt ebenfalls keinen Knopf).

      Man hätte die Gesichter des deutschen Ehepaars sehen sollen. Sie würden ab jetzt nur noch mit einem Universalübersetzer ausgehen, wie er auf dem Raumschiff Enterprise üblich war, um den Erstkontakt mit fremden Spezies herzustellen.

      Spätestens da begann mir zu dämmern, dass diese zahllosen Fälschungen, die im Umlauf waren, kein Zufall waren. Im Gegenteil. Sie deuteten auf eine beunruhigende Entwicklung hin, die einen schrecklichen Verdacht nahelegte: Der echte Wiener war im Aussterben begriffen. Genauso wie der Borneo-Orang-Utan oder die Seekuh im Amazonas. Bloß während am Aussterben der Orang-Utans die Kurzsichtigkeit und die Habgier der menschlichen Spezies schuld waren, erwiesen sich die Gründe für das Verschwinden der Wiener als viel komplexer. Es begann schon mit den Auswahlkriterien, die noch strenger waren als bei der Astronautenauswahl der NASA. Der Kandidat für den echten Wiener musste beweisen, dass seine Vorfahren sich bereits in der Steinzeit im Prater von Ast zu Ast gehangelt hatten. Gleichzeitig schadete es nicht, wenn seine Großeltern aus Budapest oder aus Tschechien kamen. Hieß man zusätzlich »Böhm« oder »Nagy«, war es wie ein Lottogewinn. Mit einem Namen wie »Schmidt« oder »Schulz« konnte man es gleich bleiben lassen, weil der Verdacht aufkam, dass das Wiener Blut durch deutsches Element verunreinigt wurde. Dieser Spagat dezimierte die Anwärterschaft bereits beträchtlich, aber der andere Grund wog noch schwerer.


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