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bleibt deshalb unmöglich. Kahneman etwa spricht hier treffend von einer »Tyrannei des erinnernden Selbst«. Leitend dabei ist vor allem der Umgang mit Sprache: Der begriffliche Verstand knüpft auf Basis von je schon Gelerntem ein Netz aus Wörtern und Bedeutungen, in das jedes aktuell gesprochene Wort wie in ein Raster fällt und dadurch eine vorhersehbare Bedeutung erlangt, die wiederum ein vorhersehbares Verhalten auslöst. Diese Raster entsprechen, kurz gesagt, den »Entscheidungsarchitekturen« der Verhaltensökonomik. Die Kognitionswissenschaften sprechen auch von »Frames«, zu Deutsch »kognitiven Deutungsrahmen«.

       DIE WIEDERBELEBUNG SPONTANEN ERKENNENS

      Die Geologie des Erkennens verneint ein solches, rein gewöhnliches Erkennen nicht. Sie bleibt aber nun – im Gegensatz zur Standardökonomie – dort nicht stehen und öffnet auf diese Weise neue Spielräume für die ökonomische Bildung. Die grundlegende Differenz zur Standardökonomik und ihres impliziten Erkenntnisparadigmas besteht darin, Formen des Erkennens, die relational zu gegenwärtigen Erfahrungen sind, nicht mehr länger zu ignorieren und ins vollständig Dunkle des vermeintlich nicht Erkennbaren zu versenken. Zunächst macht sie dafür eine Form des Erkennens stark, wie sie insbesondere in akuten Notfällen – so etwa der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie – immer wieder augenfällig wird, gleichwohl aber gerade von Ökonom*innen entweder vollständig übergangen oder aber argwöhnisch beäugt wird: das spontane Erkennen, das Menschen in unmittelbaren Erfahrungsbezügen nicht nur reagieren, sondern tatsächlich agieren lässt.

      Charakteristisch für das spontane Erkennen sind die Aktivitäten des Gemeinsinns. Dieser meint die Fähigkeit, alte Urteile und Vorurteile vollumfänglich fallenzulassen und so deren handlungslenkende Wirkungen auszusetzen. Stattdessen werden angesichts konkreter Erfordernisse der Gegenwart neue Imaginationen generiert. Der Gemeinsinn erlaubt, die Lebenswelt wahrzunehmen, bevor mentale Stereotypen oder berechnende Kalküle sie im Licht bloß vergangener Erinnerungen bewerten. Dafür fügt er konkrete Sinneswahrnehmungen zu reflektierten Einheiten zusammen und arbeitet an der tiefsten Stelle des unteren Erkenntnismantels. Dort löst er alte Gewohnheiten des Erkennens auf und lässt sie ins Magma des Erkenntniskerns einsinken. Zugleich spürt der Gemeinsinn – jenseits der Wirkmächtigkeit des begrifflichen Verstands – neue potenziell sinnhafte Strukturen auf und stabilisiert sie anfänglich in improvisierendem Handeln. Dabei ist er nicht nur ein genuin kreativer, sondern auch ein moralischer Sinn, da er Bedürfnissen situationsadäquat und selbstlos begegnen kann.

      Wichtig ist an dieser Stelle, dass das spontane Erkennen sich jeder operationalisierenden Form der Bildung entzieht. Es agiert gewissermaßen ex negativo, es gleicht der Negation aller Bildungsprozesse, die im Bereich des begrifflichen Verstandes bloß Stereotype oder im Bereich der abstrakten Vernunft allein Kalküle antrainieren. Stattdessen fordert der Gemeinsinn Freiräume in konkreten Erfahrungssituationen, sodass sich das Handeln angesichts von unmittelbaren Notwendigkeiten selbst professionalisieren darf. Gerade das Feld der Sorgearbeit scheint hier außerordentlich wichtig zu sein, damit Gestaltungsarbeit im Bereich der unmittelbaren wechselseitigen Abhängigkeiten von Menschen als Bedingung ihrer Existenz direkt erfahrbar und gestaltbar wird.

      Während der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie hoffen viele Menschen, dass aus spontanem Gemeinsinn dauerhaft neue Gewohnheiten des Denkens und Handelns erwachsen mögen. Doch ist dies illusorisch, da der Gemeinsinn für sich genommen stets nur in unmittelbaren Handlungs- und Erfahrungsvollzügen wirksam ist. Eine »Corona-Dämmerung des Neoliberalismus«, wie die taz sie etwa beschwört, wird er deswegen nicht heraufziehen lassen können. Vielmehr droht ein Rückfall in alte Gewohnheiten, sobald die drängendsten Notlagen vorüber sind.

       DIE NEUENTDECKUNG SINNSTIFTENDEN ERKENNENS

      Soll das erfahrungsrelationale Erkennen tatsächlich bis an den Rand des gewöhnlichen Verstandes wirksam werden und seine Strukturen umgestalten können, bedarf es hierfür eines weiteren Habitats menschlichen Erkennens, das nun gleichsam den gesamten unteren Erkenntnismantel auszuprägen imstande ist. Es handelt sich um das sinnstiftende Erkennen, das bislang den vollständig blinden Fleck der ökonomischen Standardlehre bildet.

      Diese Form des Erkennens ist – ebenso wie das spontane Erkennen – erfahrungsrelational. Es setzt ebenfalls ganz nah am Magma des dynamischen Erkenntniskerns an, indem es den Gemeinsinn umfasst. Doch verharrt das sinnstiftende Erkennen nicht einfach auf der Ebene dieses Sinns, sondern aktiviert zudem die Imagination ebenso wie die praktische Urteilskraft. Die Imagination meint dabei die Fähigkeit, kreative Vorstellungen des Gegenwärtigen und darüber hinaus auch des zukünftig Möglichen zu schaffen. Auch ist sie fähig, neue Bilder des Vergangenen zu schaffen und so Geschichtliches neu zu bewerten. Mit ihr avancieren Menschen von bloß vorstellungsgeprägten, reagierenden Wesen hin zu bildschöpfenden Wesen, die ihre eigenen Anschauungen frei gestalten können.

      Während die Imagination im nochmals tieferliegenden Gemeinsinn wurzelt, speist sie ihrerseits die praktische Urteilskraft, die auch als Lebensklugheit (phronesis im Altgriechischen) bezeichnet wird. Diese ist diejenige Fähigkeit des Erkennens, die sich an konkreten Situationen orientiert und in ihnen angemessen operiert. Dabei sieht sie sich keineswegs auf bloße Erinnerungen und Instinkte reduziert, sondern beinhaltet auch das kognitive und das kreative Vermögen, sich im Konkreten und damit im Erfahrungsbedingten Urteile zu bilden, Fruchtbares und Schädliches zu unterscheiden sowie Dingen und Prozessen existenzielle und praktische Werte und Bedeutungen zuzuschreiben. Sie ist auch für die Bildung von Intentionen zuständig, die nicht einfach der Sinneswahrnehmung entspringen. Sie ist eine Form der Lebensklugheit, mit der Menschen sich darüber klar werden können, was sie wirklich wollen und sollen. Sie vermag alte Denk- und Handlungsgewohnheiten zu überwinden und ebenso neue zu schaffen, um in der Gegenwart über die Wirksamkeit der Vergangenheit zu entscheiden und sie auf eine neue Zukunft hin aktiv zu verändern.

      Das sinnstiftende Erkennen bildet neue kreative Normalitäten. Um es seinerseits zu kultivieren, braucht es Freiräume für ein reflektiertes Tun in der Gegenwart, gepaart mit einem breiten Wissen um das gesellschaftlich-geschichtlich Gewordene. Dies alles in Forschung und Lehre zu vermitteln, ist nur mit handlungsorientierten und erfahrungsbasierten didaktischen Ansätzen möglich, die ein reflexives Tun mit Einblicken in die Kultur- und Ideengeschichte und imaginativen Übungen, gerade auch philosophisch-ästhetischer Art, verbinden.

       FÜR EINE REFLEXIVE BIODIVERSITÄT DES ERKENNENS: DAS BASHO-FRAMEWORK

      Natürlich geht es mir nicht darum, das rationale und das gewöhnliche Erkennen einfach auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu befördern. Vielmehr entwerfe ich eine neue Vision reflexiver Biodiversität des Erkennens, die verschiedene Habitate umfasst und die sich an das basho-Framework anlehnt, welches auf der Abbildung unten gezeigt wird. Basho ist ein japanischer Begriff, der so viel wie »konkrete Aufenthaltsorte« oder »Wirkungsstätten« meint und in der japanischen Philosophie gerade auch die Vorstellung von Habitaten des Erkennens beinhaltet. Das basho-Framework kennt – genau wie die von mir vorgeschlagene Imagination der Geologie des Erkennens – nun nicht mehr bloß zwei, sondern fünf solcher Habitate: Rechts befindet sich das rationale Erkennen, das die neoklassische Theorie und die Theorie rationaler Erwartungen zur Monokultur erhoben hat. Auf der gleichen Seite liegt auch das gewöhnliche (oftmals unbewusste) Erkennen, das die Verhaltensökonomik gemeinsam mit dem rationalen Erkennen zur alleinherrschenden Duokultur stilisiert hat. Ergänzt (aber nicht ersetzt!) finden sich diese beiden nun durch das sinnstiftende, das spontane sowie das – mittig abgebildet – radikal-imaginäre Erkennen.

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      3 basho-Framework

      Die Geologie des Erkennens, wie in der Abbildung auf Seite 30 gezeigt, schafft eine neue Vorstellung dafür, wie das spontane und das sinnstiftende Erkennen sowohl das gewöhnliche als auch das rationale Erkennen mitformen, zugleich aber von ihnen fest umschlossen und eingeschnürt werden: Spontanes und sinnstiftendes Erkennen können sich ihren Weg an die Oberfläche gesellschaftlicher Wahrnehmung und Gestaltung


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