Cape to Cape. Tim Farin
und die angepeilten täglichen zehn Stunden plus schaffen sie schon am ersten Tag nur mit Mühe. Vor allem kommen sie bei Weitem nicht auf das Distanzziel. Nicht einmal 200 Kilometer radeln sie an diesem Sonntag zusammen. Es wird hart in Skandinavien, das ist ihnen jetzt klar, und Philipp hat noch etwas, das die beiden belasten wird. Er hat es nur noch nicht verraten.
BIWAK HINTER DER TANKSTELLE
In Lakselv, ganz am südlichen Ende des Fjords, entschließen sich die beiden, für die Nacht Rast zu machen. Der Ort selbst ist unspektakulär, aber mit gut 2.000 Einwohnern für nordskandinavische Verhältnisse beinahe eine Metropole. Im Westen liegt der Stabbursdalen-Nationalpark, doch Jonas und Philipp denken nicht an Sightseeing. Sie suchen zweierlei: ein Restaurant und einen soliden Schlafplatz. Da es in Skandinavien meist zu teuer ist, ins Hotel zu gehen, werden sie ein Biwak im Freien machen. Hinter einer Tankstelle finden sie eine Holzveranda vor einem Verwaltungsgebäude, die sogar überdacht ist. So brauchen sie kein Zelt aufzuschlagen. Das hat Jonas zwar dabei – sie werden es aber in den kommenden Wochen nicht ein einziges Mal zusammen nutzen.
Beim Abendessen ist die Stimmung gelöst. Mit Jonas und Philipp sitzt auch ihr norwegischer Kameramann Paul am Tisch, der sich noch immer über den ausgewählten Schlafplatz wundert. Es gibt Burger, dann geht es ins Quartier. Auch wenn die Kilometerzahl nicht beeindruckend war, sie haben den ersten Tag geschafft, den Anfang ohne Wintereinbruch. Jonas liegt in seinem Schlafsack und sagt: »Ich muss noch Social Media machen«, das gehört für ihn zu jeder längeren Pause – Kontakt pflegen und die Community über die Erlebnisse auf dem Laufenden halten. Philipp überlegt sich derweil, wie er die Kälte der ersten Nacht auskontern soll. Er legt sich in seinen Schlafsack und wickelt eine Isolierfolie außen herum, um die Kälte und Feuchtigkeit rauszuhalten.
Die Gefühle der beiden unterscheiden sich stark in diesem Moment, reden tun sie jedoch nicht darüber. Jonas ist im Abenteurer-Macher-Modus, ist froh. »Ich habe da gelegen und fand es einfach nur total geil, hier hinter dieser Tankstelle in Lakselv zu liegen«, erinnert er sich später. Er schläft gut in dieser Nacht. Philipp dagegen hat Probleme mit dem Einschlafen. Die niedrigen Temperaturen in Skandinavien vermitteln ihm körperlich, was auf ihn zukommt. Er spürt den Druck. »Mir gingen 1.000 Dinge durch den Kopf«, sagt Philipp hinterher. Besonders aber plagte ihn jenes Gefühl, über das er mit Jonas bislang noch gar nicht gesprochen hat. Denn es könnte alles ins Wanken bringen.
DER HINTERN MACHT PROBLEME
Philipp hat schon von Kindesbeinen an ungewöhnliche, bedrohliche und skurrile Erfahrungen gesammelt. Mit seinem Vater, dem Autor und Expeditionssegler Klaus Hympendahl, ist er mit Windkraft um die Welt gereist, war in der Südsee unterwegs. Philipp hat auf dem Fahrrad enorme Prüfungen bestanden, etwa Paris–Brest–Paris. Oder, gerade erst vor zwei Monaten, das Three Peaks, ein Rennen ohne Support von Wien nach Barcelona. Er hatte sich im Mai an Jonas gewandt, weil er den Extremsportler aus Schwaben gern als Fotograf auf dessen nächstem Wahnsinnsritt begleiten wollte. Und wenn er schon einmal dabei war, warum sollte er nicht gleich vorschlagen, dass die beiden den Rekord als Duo angehen. Als er jetzt in der kalten Nacht von Lakselv liegt, als Jonas neben ihm schläft, ist der Plan Realität geworden. Es ist Philipps größtes Abenteuer, und er hat Angst zu versagen.
Die Angst hat eine körperliche Ursache. Vor zwei Wochen war Philipp mit seinem neuen Titanrad zu einer Hochzeit in Koblenz gefahren. Was er dabei nicht bemerkt hatte, war das dezente Abrutschen seiner Sattelstütze während der Fahrt. »Ich habe erst später bemerkt, dass ich in eine völlig falsche Sitzposition gerutscht bin«, erinnert sich Philipp. Das fiel ihm erst auf, als er bereits Schmerzen in den Knien hatte – und wieder in Düsseldorf war. Als er einige gymnastische Übungen machte, merkte er: Mit dem Knie stimmt etwas nicht. Eine Woche später war er dann mit Jonas zur Promotion-Tour auf der Fahrradmesse Eurobike in Friedrichshafen. Philipp unterzog sich dem Trubel mit Schmerzen. Jonas merkte nichts davon. Die beiden hetzten von Termin zu Termin. »Da konnte ich kaum noch laufen«, sagt Philipp Monate später, »aber das durfte natürlich niemand wissen, vor allem Jonas nicht.«
Die Schmerzen sind immer noch mit dabei, und das macht Philipp in dieser Nacht in Lakselv am meisten Druck. Er hat Angst, Jonas einzuweihen in sein Problem. Er hat Sorge, abbrechen zu müssen. Er will nicht dastehen wie einer, der riesig tönt und dann jeden Nachweis der eigenen Leistungsfähigkeit schuldig bleibt. Der körperliche Schmerz wird in dieser Nacht und am nächsten Morgen überblendet von den seelischen Qualen.
Skandinavische Einsamkeit: In den weiten Wäldern Finnlands verlieren sich die Dimensionen.
Erste Grenze: Von Norwegen nach Finnland geht es noch mit einem Lächeln – bei Jonas.
Katalog-Skandinavien: Seen, Holzhäuser, klares Licht – die Idylle des Nordens motiviert das Duo.
RENNEN GEGEN DEN EIGENEN ANSPRUCH
Doch als es am nächsten Morgen weitergeht, bleibt Philipps Mund verschlossen. Um 5.30 Uhr klingelt der Wecker, zum Frühstück gibt es Trockenessen in Wasser aufgelöst, ein Rindfleischtopf mit Graupen aus der Tüte, den Jonas mit Wasser präpariert. Philipp erlebt, wie Jonas schon im Rekordmodus aufs Rad steigt. »Er fährt morgens einfach los, als wäre nichts gewesen«, wundert sich der ältere Mitfahrer. Jonas pusht. Er erklärt das ganz rational, wahrscheinlich ist über Nacht die Erkenntnis vom ersten Tag zu seinen Berechnungen im Vorfeld gekommen: »Der harte Teil kommt erst noch, und der wird noch lang werden. Wir dürfen jetzt nichts verlieren, denn unser Spielraum ist enorm klein.« Einen halben Tag kann man unterwegs schnell gegenüber dem Plan einbüßen, einholen lässt sich dieser Rückstand dann nur mit Mühe und über Wochen. Es ist vom ersten Augenblick an ein Rennen mit einem Gegner, den Jonas selbst in die Welt gesetzt hat: dem Anspruch, den Rekord um mehr als einen Monat zu unterbieten. Es ist zugleich reine Fiktion und doch jederzeit spürbare Last. Das Vorhaben ist so groß, dass es sich kaum fassen lässt.
Getüftelt hat Jonas an diesem Vorhaben bereits, als er im vergangenen Herbst südwärts durch die Anden fuhr, während seiner Rekordfahrt von Alaska nach Ushuaia am Kap Hoorn, tief im Süden Argentiniens. Jonas hatte während dieser Reise längst einen zotteligen Bart im Gesicht stehen, seine Leistung zog die Aufmerksamkeit vieler Medien auf sich, doch er dachte schon an das Danach. »Ich brauche immer etwas, was als Nächstes kommt, sonst würde ich in ein Loch fallen«, erklärt er diese enorme Lust auf Wagnisse. Anfang 2019 begann er dann, die Details der Route nach Kapstadt zu studieren. Er bemaß die mögliche Rekordzeit anhand des Studiums der Strecke. Er wollte mindestens zehn Stunden pro Tag fahren und berechnete, basierend auf den Höhenmetern und den Windwerten der Regionen, einen Schnitt von 25 Stundenkilometern. So einfach kann ein Plan sein.
DROHT DAS FRÜHE ENDE?
Doch schon vor der finnischen Grenze bei der Ortschaft Karigasniemi, die Jonas und Philipp an diesem Morgen des 9. September anpeilen, zeigt sich ein Fehler in der Vorbereitung. Skandinaviens Geografie hat ihre Tücken. Jonas kannte zwar die Summe der Höhenmeter, aber die Anforderungen der einzelnen Anstiege konnte er nicht erahnen. »Das sind ja richtige Rampen, das habe ich unterschätzt«, sagt er selbstkritisch. Man muss solche Stiche bergan mit dem schweren Bikepacking-Gerät erst einmal meistern. An der finnischen Grenze hält er für ein Foto an, Philipp fährt derweil weiter, er ist angeschlagen, er hat brutale Schmerzen im Knie. Jetzt geht es wieder einen solch steilen Berg hinauf, drum herum dichter Wald aus Birken