Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller
aber nichts dagegen, dass lateinische Buchstaben in Holz eingeritzt werden können. Somit ist hier primär der Schriftträger Holzstäbchen und das Schreibwerkzeug – möglicherweise ein Messer, das von den im Skriptorium gebrauchten Schreibwerkzeugen Feder und Griffel abweicht, für die Wahl des Verbs rísta entscheidend war. Anhand dieses Kontextes kann rísta nur in Bezug auf das Schreibmaterial von rita/ríta unterschieden werden. Die Konstruktion rísta e-t á e-u verbindet die Attribute SCHREIBER mit dem Wert sturlungr, SKRIPT mit dem Wert vísa und SCHRIFTTRÄGER mit dem Wert kefli.
Ein vergleichbares Verb grafa ‚graben; eingraben, -ritzen, gravieren‘ (vgl. Baetke 2002: 207 und Fritzner 1886–96: I, 627f.) befindet sich in der Laurentius saga biskups, wo ebenfalls ein Text in ein hartes Material eingetragen wird. Die A- und B-Redaktion unterscheiden sich hier, so dass beide nacheinander zitiert werden:
A: „enn Lauc(encius) let bua hann og diktade sialfur þau vers sem þar eru grafinn aa“ (LSB 93). ‚Aber Laurentius liess sie [= die Schale] bearbeiten und verfasste selbst die Verse, welche darauf eingraviert sind‘ (Übers. KM).
B: „liet L(aurencius) hann bva Jons bolla Hola biskups […] ok diktad<i> þau uers sem grafinn eru aa honum“ (LSB 93). ‚Laurentius liess ihn [= Stefán Hauksson] die Schale Jóns, des Bischofs von Hólar, bearbeiten […], und verfasste die Verse, welche auf ihr eingraviert sind‘ (Übers. KM).
Das Verb ist in beiden Belegen im Passiv und die Relativpartikel sem, welche auf vers im Hauptsatz, also die TEXTSORTE, verweist, steht als Subjekt. Im Präpositionalobjekt mit á e-u ist der SCHRIFTRÄGER bolli ‚Schale‘ enthalten. Diese Schale ist heute nicht mehr erhalten, kommt aber in drei Güterverzeichnissen der Kirche von Hólar vor (vgl. Grímsdóttir 1998: 365, Anm. 2). Das Agens ist eine Leerstelle, ergibt sich aber aus dem Kontext, nämlich Stefán Hauksson, ein Meister (meistari) in der Goldschmiedekunst, Gravur und dem Zeichnen (vgl. LSB 93). Sein Handwerk impliziert einen Wert Metall, der das Material des Schriftträgers entsprechend einschränkt. Hier ist der SCHREIBER vom AUTOR, der eindeutig der Bischofskandidat Laurentius ist (vgl. Kap. II.5.2.c.), zu unterscheiden. Deshalb muss die TEXTSORTE vers hier wieder metonymisch als SKRIPT verstanden werden. Wie beim Holz wird auch für das Schreiben auf Metall ein anderes Verb verwendet, wobei hier wahrscheinlich nicht mit Runen zu rechnen ist, obwohl es durchaus Runeninschriften in Kirchen und auf liturgischen Gegenständen gibt (vgl. Düwel 2007: 153–166, 172). Dieser Beleg zeigt wiederum, dass die Materialität in der Wortwahl entscheidend ist. Wie rísta e-t á e-u verbindet auch grafa e-t á e-u die Attribute SCHREIBER mit dem Wert meistari, SKRIPT mit dem Wert vers und SCHRIFTTRÄGER mit dem Wert bolli.
Da rísta im vorliegenden Korpus nur einmal belegt ist, lohnt sich ein Exkurs in die von Spurkland (1994, 2004, 2005) untersuchten norwegischen Runeninschriften und ins ONP (rísta). Spurkland zitiert in seinen Untersuchungen einige davon. Die Valenz der Belege ist relativ einheitlich und besteht aus Agens und Thema. Ersteres bezieht sich auf das Attribut SCHREIBER mit drei männlichen Personennamen als Werten (vgl. Spurkland 1994: 8; 2004: 338; 2005: 141). Dazu passt das Appellativ maðr ‚Mann‘ in einem Beleg (vgl. Spurkland 1994: 11). Letzteres enthält in vier Belegen das Wort rúnar ‚Runen, Schriftzeichen‘ (vgl. Baetke 2002: 507), einen Wert für das Attribut SKRIPT (vgl. Spurkland 1994: 8, 11; 2004: 338; 2005: 141). Dass das Präpositionalobjekt á e-u fehlt, erklärt sich durch die unterschiedliche Kommunikationssituation der Inschrift, wo der SCHRIFTTRÄGER bereits vor Augen liegt.
Die Belege aus dem ONP (rísta) stimmen in der Valenz ebenfalls weitgehend überein. Die Konstruktion rísta e-t á e-t/-u verbindet die Attribute SCHREIBER, SKRIPT und SCHRIFTTRÄGER. Für das Attribut SCHREIBER lässt sich ebenfalls der Wert maðr nachweisen (vgl. Einarsson 2001: 144), aber auch kerling ‚Frau‘ (vgl. Jónsson 1936: 250). Der häufigste Wert für das SKRIPT ist ebenfalls rúnar (z.B. vgl. Einarsson 2001: 144 und Jónsson 1936: 250). Rúnar muss nicht unbedingt ‚Runen‘ bedeuten, sondern bezeichnet jegliche Art von Schriftzeichen (vgl. Baetke 2002: 507). In Spurklands Inschriften sind es ganz offensichtlich Runen, in den Belegen aus der Sturlunga saga und den Isländersagas kann dies nicht nachgeprüft werden. Die Textsorten vísa und kvæði lassen sich auch belegen (vgl. Einarsson 2001: 149, Jónsson 1936: 216). Der häufigste Wert als Schriftträger ist kefli (z.B. Einarsson 2001: 149, Jónsson 1936: 203). Diese Belege aus dem 14. Jh. und aus der Zeit um 1500 zeigen, dass der frühneuzeitliche Beleg aus der Sturlunga saga in seiner Valenz und Semantik mittelalterliche Entsprechungen hat. Diese gehen aber noch darüber hinaus. Ausserhalb dieses Kernframes gibt es weitere Ergänzungen, die an andere verba scribendi erinnern: vel für die QUALITÄT (vgl. Jónsson 1936: 216), ein Dativobjekt für den EMPFÄNGER (vgl. Einarsson 2001: 144) oder eptir e-u für die QUELLE, in diesem Kontext das mündliche Diktat einer Person (vgl. Jónsson 1936: 203). In der Valenz und in der Zusammensetzung des Frames unterscheidet sich rísta also nicht wesentlich von den übrigen verba scribendi. Auffälligste Unterschiede sind, wie oben schon festgestellt, die Werte des Attributs SCHRIFTTRÄGER und evtl. des SCHRIFTSYSTEMS, sofern es sich bei rúnar tatsächlich um Runen handelt. Dieser Wert könnte durchaus eine Abweichung vom Default markieren, aber er kommt schon in den Inschriften im älteren Futhark vor, wo er tatsächlich den Defaultwert darstellt. Er dürfte sicher auf die Schriftlichkeit hinweisen, weil diese nicht unbedingt Teil des Konzepts von rísta bildet, das einfach ‚ritzen‘ bedeutet. Somit unterscheidet sich rísta – ähnlich wie grafa – vor allem in der Materialität, nicht nur in Bezug auf den Schriftträger, sondern auch auf die Schreibwerkzeuge. Ausserhalb dieser Materialität und Technik verhält es sich wie andere verba scribendi und weist auch die gleichen Attribute und Ergänzungen auf, wenn auch in einem kleineren Umfang.
3. rita/ríta
Die Verben rita und ríta stehen im Gegensatz zu rísta für das Schreiben mit lateinischen Buchstaben und entsprechen semantisch wohl lat. scribere. Die beiden Verben werden hier zusammengefasst, weil sie nicht in allen Konjugationsformen unterschieden werden können und in den Handschriften die Länge des Stammvokals nicht immer durch einen Akzent markiert ist. Zudem ist ein Teil der Formen ohnehin homophon.1 Die beiden Verben sind laut Baetke (2002: 503) synonym, mit der Bedeutung ‚schreiben, aufzeichnen, berichten‘, „rita/ríta til e-s“ bedeutet ‚an jdn. schreiben‘. Etwas differenzierter ist allerdings Fritzner (1886–96: III, 118f.): Beide Verben teilen bei ihm die Bedeutung ‚schreiben‘ („skrive“). Er führt viele unübersetzte Zitate an, gibt aber keine Anhaltspunkte zu den syntagmatischen Relationen. Abgesehen von „klerkr“ ‚Geistlicher‘ und „ritari“ ‚Schreiber‘ sind nur Personennamen und Pronomina zu finden. Als Thema gibt es „bók“ ‚Buch‘, „bréf“ und „rit“ ‚Brief‘ als Schriftträger, „stafr“ ‚Buchstabe‘ und „orð“ ‚Wort‘ als sprachliche Zeichen, sowie „saga“ ‚Geschichte‘ „þáttr“ ‚Erzählung‘ als Textsorten, sowie „æfi“ und „líf“ ‚Leben‘ als Inhalt. Schriftträger und Texte kommen auch als Ort vor wie „á bók“ ‚auf dem Buch‘, „í sögu“ ‚in der Geschichte‘, „í guðspjöllum“ ‚in den Evangelien‘ und „undir sínum innsiglum“ ‚unter seinen Siegeln‘. Zwei instrumentale Dative verweisen auf den Körper „höndum“ ‚mit den Händen‘ und sprachliche Zeichen „gullstöfum“ ‚mit Goldbuchstaben‘. Die Kausativkonstruktion „láta ríta“ enthält einen König („konungr“) im Subjekt als Auftraggeber.
Das Lemma ríta hat zusätzlich die Bedeutung ‚ritzen‘ („ridse“) mit dem Beispiel „borgarveggi […], er stafsbroddrinn hafði á ritit“ ‚die Stadtmauern […], auf welche die Speerspitze geritzt hatte‘ (Übers. KM). Das Subjekt stafsbroddr ‚Stabspitze‘ ist hier ein Schreibwerkzeug und borgarveggir ‚Stadtmauern‘ in einem Präpositionalobjekt mit á ‚auf‘ der Schriftträger. Das Lemma rita hat dafür die zusätzliche Bedeutung ‚aufschreiben, zählen, rechnen‘ („opskrive, tælle, regne“), welche sich anhand der syntagmatischen Relationen nicht deutlich von ‚schreiben‘ abgrenzen